Schwerpunkt: Umsatzsteuer/Zollrecht

Im Interview: Ingrid Maschl-Clausen

August 2022

Ingrid Maschl-Clausen ist seit 2021 Österreichs erste Europäische Staatsanwältin. Im Interview mit Rainer Obermann spricht sie über Aufbau, Struktur, Funktion und praktische Arbeitsweise der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA) als neuer Strafverfolgungsbehörde im Bereich der grenzüberschreitenden Bekämpfung, insbesondere auch von Mehrwertsteuer- und Zolldelinquenz. Daraus ergeben sich praxisrelevante Informationen aus erster Hand und exklusive Einblicke in neue Rechtsfragen.

Das Interview führte Rainer Obermann, Experte gemäß § 2 Abs 5a JBA-G für Steuerrecht und Finanzstrafsachen bei der StA Wien und ständiger Mitarbeiter der Zeitschrift für Steuerstrafrecht und Steuerverfahren - ZSS. Ursprüngliche Veröffentlichung: ZSS Heft 2/2022 

Foto: © EPPO

Die Europäische Staatsanwaltschaft (im Folgenden: EUStA) ist eine neue Strafverfolgungsbehörde der Union, deren Struktur zum einen aus einer zentralen Ebene mit Sitz in Luxemburg und zum anderen – in jedem der teilnehmenden Mitgliedstaaten – einer dezentralen Ebene besteht. Frau OStAin Mag. Ingrid Maschl-Clausen, auf welcher dieser beiden Ebenen sind Sie wo tätig und in welcher Funktion?

Maschl-Clausen: Ich bin als Europäische Staatsanwältin auf der zentralen Ebene am Sitz der Behörde in Luxemburg tätig. Mein Aufgabenbereich ist vielfältig. Er lässt sich im Großen und Ganzen in drei große Teile gliedern: Erstens beaufsichtige ich die Strafverfahren, welche die EUStA in Österreich – nach österreichischem Recht – führt. Zweitens bin ich als ständiges Mitglied in den sogenannten Ständigen Kammern innerhalb der EUStA an der Entscheidungs- und Beschlussfassung in Verfahren, die in anderen teilnehmenden Mitgliedstaaten geführt werden, beteiligt. Dabei wenden die Kammern im Wesentlichen das materielle Strafrecht und das Strafverfahrensrecht jenes Mitgliedstaates an, in dem das Strafverfahren geführt wird. Das heißt, wenn ich als Ständiges Mitglied einer Kammer eine Entscheidung zu treffen habe, wende ich für mich fremdes Recht an. Und drittens bin ich, gemeinsam mit den 21 anderen Europäischen Staatsanwälten und der Europäischen Generalstaatsanwältin, als Teil des sogenannten Kollegiums für die allgemeine Aufsicht über die EUStA und Entscheidung über strategische Fragen und allgemeine Angelegenheiten zuständig. Darunter fallen zB budgetäre Angelegenheiten oder der Stellenplan der EUStA und sonstige Leitungsaufgaben. Als Kollegium legen wir auch grundlegende Fragen der Strafverfolgungspolitik der EUStA, zB in Form von Leitlinien, fest.

 

Welche Aufgaben und auf welcher Ebene erfüllen demgegenüber an welchen Standorten Ihre österreichischen AmtskollegInnen, OStAin Dr. Claudia Angermaier sowie OStA DDr. Konrad Kmetic? Wodurch unterscheidet sich im Wesentlichen deren amtlicher Kompetenzbereich von dem Ihrigen?

Maschl-Clausen: OStAin Dr. Claudia Angermaier und OStA DDr. Konrad Kmetic sind die beiden Delegierten Europäischen Staatsanwälte in Österreich. Die EUStA ist so strukturiert, dass die eigentliche staatsanwaltschaftliche Arbeit, dh das Führen und Leiten der Ermittlungen, das Erlassen staatsanwaltschaftlicher Anordnungen oder die Vertretung der Anklage in der Hauptverhandlung den Delegierten Europäischen Staatsanwälten obliegt. Diese sind vor Ort, jeder in „seinem bzw ihrem“ Mitgliedstaat, tätig. Die Delegierten Europäischen Staatsanwälte – im österreichischen Fall Dr. Claudia Angermaier und DDr. Konrad Kmetic – berichten an die Ständigen Kammern in der Zentrale in Luxemburg. Jeder neu einlangende Fall wird einer der fünfzehn Ständigen Kammern per Zufallsprinzip zugeteilt. Auf Basis eines Entscheidungsvorschlags des Delegierten Europäischen Staatsanwalts treffen die Ständigen Kammern die wesentlichen Entscheidungen im Strafverfahren, beispielsweise ob Anklage erhoben wird, ob ein Verfahren eingestellt oder diversionell erledigt wird, oder ob in einem konkreten Fall die Zuständigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft gar nicht ausgeübt wird. Meine tägliche Arbeit habe ich schon in der Antwort zur vorigen Frage erläutert.

Beschreiben Sie uns bitte kurz Ihren beruflichen Werdegang! Was hat Sie an der Übernahme dieser neuen Aufgabe persönlich besonders gereizt, auf Grundlage welcher Erwägungen haben Sie sich für die neue Funktion entschieden?

Maschl-Clausen: Ich bin gelernte Richterin. Nach einer zweijährigen Tätigkeit im Bundesministerium für Justiz in der Legistik für Strafsachen habe ich den Weg in Richtung Europäischer Union eingeschlagen. Zunächst war ich drei Jahre lang sogenannte abgeordnete nationale Sachverständige im Generalsekretariat des Rates der EU mit Sonderzuständigkeit für die Bekämpfung organisierter Kriminalität. Danach war ich Justizattachée in der österreichischen Ständigen Vertretung bei der Europäischen Union und habe österreichische Positionen im Rat und im Europäischen Parlament vertreten. Von da zog es mich zu Eurojust nach Den Haag. Eurojust ist eine Einrichtung der Europäischen Union mit der Aufgabe, grenzüberschreitende Strafverfahren im Bereich der schweren Kriminalität, besonders organisierter Kriminalität, zu koordinieren. Ich war dort mehr als vier Jahre sogenanntes Nationales Mitglied, dh die Leiterin des österreichischen Büros. 2015 bin ich nach Österreich zurückgekehrt und habe – nach einem kurzen Intermezzo bei der Staatsanwaltschaft Eisenstadt – für knapp fünf Jahre als Oberstaatsanwältin bei der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft Wirtschaftsstrafsachen bearbeitet. Meine jetzige Tätigkeit als Europäische Staatsanwältin bietet die einmalige Chance, die europäische Perspektive mit meiner praktischen staatsanwaltschaftlichen Erfahrung zu kombinieren und in der täglichen Arbeit für die Europäische Staatsanwaltschaft einzusetzen.

Welche zusätzlichen Kenntnisse, besonderen Fähigkeiten und praktischen Erfahrungen benötigen die ernannten Delegierten Europäischen Staatsanwälte jeweils?

Maschl-Clausen: Die Delegierten Europäischen Staatsanwälte müssen über umfangreiche Erfahrung in der Führung von Verfahren wegen Straftaten zum Nachteil des EU-Haushalts, und ganz generell von Wirtschaftsstrafverfahren, verfügen. Da die Arbeitssprache der EUStA Englisch ist, müssen die Delegierten Europäischen Staatsanwälte auch über hervorragende Englischkenntnisse – sowohl aktiv als auch passiv – verfügen. Flexibilität, Anpassungsfähigkeit an ein ungewohntes Arbeitsumfeld und ein hohes Maß an Teamfähigkeit sowie die Fähigkeit, in einem internationalen Umfeld zu arbeiten, sind ebenso gefordert. Und meiner Meinung nach sind auch Neugierde, überdurchschnittlicher Einsatz und die Bereitschaft, juristisches und praktisches Neuland zu erkunden, unabdingbar.

 

Welche tatsächlichen und organisatorischen Schwierigkeiten brachte die Schaffung der neuen Strafverfolgungsbehörde aus Ihrer Sicht mit Blick auf die Gründungsphase mit sich?

Maschl-Clausen: Es haben sich eine Reihe von Herausforderungen gestellt, teilweise stellen sie sich noch immer. Da die EUStA die erste Strafverfolgungs- und Anklagebehörde in der Europäischen Union ist, konnten und können wir keine erprobten Muster übernehmen oder Vorbilder kopieren, sondern müssen viele Dinge quasi neu erfinden. Mangels verlässlicher Anfallszahlen vor dem Beginn des operativen Starts der Behörde am 1. Juni 2021 haben wir viele Entscheidungen auf Basis von Schätzungen der zu erwartenden Fälle getroffen. So wurde die Zahl der Europäischen Staatsanwälte pro Mitgliedstaat auf Grund von Schätzungen über die zu erwartende Anzahl von Fällen im jeweiligen Staat festgelegt. Auch die Entscheidung über die Anzahl der Ständigen Kammern und darüber, in wie vielen Ständigen Kammern jeder einzelne Europäische Staatsanwalt ständiges Mitglied sein soll, haben wir auf Basis dieser Schätzungen getroffen. Diese Schätzungen haben sich im Großen und Ganzen bewahrheitet. Große Schwierigkeiten hat uns in der Anfangsphase die Tatsache gemacht, dass Slowenien keine Delegierten Europäischen Staatsanwälte nominiert hatte und wir ohne Delegierte Europäische Staatsanwälte in Slowenien am 1. Juni 2021 gestartet sind. Soweit dies möglich war, hat der Europäische Staatsanwalt aus Slowenien monatelang die Arbeit der fehlenden Delegierten Europäischen Staatsanwälte mitgemacht. Das zweistufige Entscheidungssystem innerhalb der Behörde – Delegierte Europäische Staatsanwälte vor Ort in den Mitgliedstaaten und Ständige Kammern in Luxemburg – und der dafür erforderliche Informationsfluss in digitaler Art und Weise bedurften und bedürfen einiger Gewöhnung. Das für den digitalen Informationsfluss geschaffene Fallbearbeitungssystem („Case Management System – kurz CMS“) ist noch nicht so nutzerfreundlich, wie wir das gerne hätten, und muss ständig weiterentwickelt werden. Und natürlich standen und stehen wir fast jeden Tag vor neuen und bislang ungelösten Rechtsfragen. Gerade das macht natürlich die Aufbauarbeit und die ersten operativen Monate so spannend.

Da die EUStA die erste Strafverfolgungs- und Anklagebehörde in der Europäischen Union ist, konnten und können wir keine erprobten Muster übernehmen oder Vorbilder kopieren, sondern müssen viele Dinge quasi neu erfinden.

Welche Mitgliedstaaten nehmen nicht an der EUStA teil und warum nicht?

Maschl-Clausen: Schweden, Dänemark, Irland, Ungarn und Polen nehmen nicht teil. Deren Nichtteilnahme ist eine politische Entscheidung, die ich natürlich nicht kommentieren kann. Allgemein wird erwartet, dass Schweden in absehbarer Zeit der EUStA beitreten wird. Bei Dänemark und Irland ist die Nichtteilnahme in deren Sonderstatus in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nach dem Lissabonner Vertrag begründet. Bei Ungarn und Polen dürfte die Nichtteilnahme in der derzeitigen politischen Ausrichtung beider Staaten begründet liegen.

Wie gestaltet sich das grundlegende Zuständigkeitsverhältnis der EUStA im Verhältnis zur (sonst) zuständigen österreichischen Staatsanwaltschaft?

Maschl-Clausen: Die EUStA ist nicht ausschließlich, sondern gemeinsam mit den nationalen Behörden für die Ermittlung und Verfolgung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU zuständig. Allerdings hat die Zuständigkeit der EUStA im Verhältnis zu den sonst zuständigen Staatsanwaltschaften Priorität. Vereinfacht gesagt heißt das, dass die nationalen Staatsanwaltschaften kein Verfahren einleiten oder weiterführen dürfen, wenn die Europäische Staatsanwaltschaft zuständig sein und ihre Zuständigkeit ausüben könnte. Eine Ausnahme gilt (nur) für Maßnahmen, die keinen Aufschub dulden. In solchen Fällen muss die (sonst) zuständige österreichische Staatsanwaltschaft, aber auch die Kriminalpolizei und/ oder die Finanzstrafbehörde die dringliche Maßnahme setzen und umgehend die EUStA verständigen.

Sind die nationalen Staatsanwaltschaften der EUStA zur Amtshilfe verpflichtet?

Maschl-Clausen: Ja. § 12 des Bundesgesetzes zur Durchführung der Europäischen Staatsanwaltschaft, BGBl I 2021/94 (kurz EUStA-DG) setzt diese aus der EUStA-VO stammende Vorgabe unmissverständlich ins nationale Recht um.

Warum bedurfte es – trotz der unmittelbaren Anwendbarkeit der Verordnung (EU) 2017/1939 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft, ABl Nr L 283 vom 31.10.2017, S 1 (in der Folge: EUStA-VO) – legistisch dennoch eines eigenen nationalen Umsetzungsgesetzes, in Österreich des Bundesgesetztes zur Durchführung der Europäischen Staatsanwaltschaft, BGBl I 2021/94 (kurz EUStA-DG)?

Maschl-Clausen: Es ist natürlich richtig, dass die EUStA-VO unmittelbar anwendbar ist. Nationales Recht kommt daneben zur Anwendung, soweit nichts Gegenteiliges in der EUStAVO geregelt ist. Einige Bestimmungen der EUStA-VO stehen nicht mit österreichischem nationalen Strafverfahrensrecht im Einklang und verdrängen insoweit das nationale Recht. Beispielsweise legt die EUStA-VO für Neuanzeigen, die bei der EUStA einlangen, das Legalitätsprinzip (dh Prinzip der verpflichtenden Strafverfolgung) fest. Daraus ergibt sich die Nichtanwendbarkeit der §§ 191, 192 der StPO und des § 18 VbVG als Ausfluss des Opportunitätsprinzips. Im Sinne der Rechtssicherheit stellt das EUStA-DG innerstaatlich klar, welche nationalen Rechtsvorschriften nicht anwendbar sind. Die EUStA-VO sieht zudem, an die Mitgliedstaaten gerichtet, eine Verpflichtung zur Festlegung der innerstaatlichen Behörden, denen bestimmte Zuständigkeiten zukommen, vor (zB das im Ermittlungsverfahren zuständige Gericht oder die bei Zuständigkeitskonflikten zwischen einer Staatsanwaltschaft und der EUStA entscheidende Behörde). Diese Determinierung findet sich im EUStA-DG. Und nicht zuletzt setzte auch die Ernennung der beiden Delegierten Europäischen Staatsanwälte Änderungen im Dienstrecht voraus.

Welche Rangordnung ergibt sich für die EUStA im Zusammenspiel zwischen Unionsrecht und nationalem Recht? Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Hat die EUStA in einem von ihr geführten Finanzstrafverfahren nun das EUStA-DG, und/oder die StPO respektive verfahrensrechtliche Sonderbestimmungen des FinStrG anzuwenden?

Maschl-Clausen: Die EUStA bewegt sich mit ihren Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen in einem komplexen Rechtsrahmen. Materiell-rechtlich umschreibt die Richtlinie (EU) 2017/1371 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2017 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug (kurz: PIF-RL) so, wie sie ins jeweilige nationale Recht umgesetzt wurde, den Zuständigkeitsbereich der EUStA. Daraus folgt, dass bereits bei der Zuständigkeitsprüfung sowohl EU-Recht (PIF-RL) als auch nationales Recht parallel anzuwenden sind. Sollte die PIF-RL in einem teilnehmenden Mitgliedstaat nicht richtig oder nicht vollständig umgesetzt worden sein, so ist – ungeachtet der Frage einer allfälligen Horizontalwirkung – ein Rückgriff auf die PIF-RL schon deshalb unzulässig, weil die EUStA-VO auf die Umsetzung der PIF-RL ins nationale Recht verweist. Anders verhält es sich im Verhältnis der EUStA-VO zum jeweils anwendbaren Verfahrensrecht – in Österreich der StPO, dem VbVG, dem FinStrG und (praktisch weniger relevant) auch dem JGG. Wie schon erwähnt ist die EUStA-VO unmittelbar anwendbar und hat Vorrang gegenüber widersprechendem nationalen Recht. Subsidiär ist nationales Verfahrensrecht anwendbar, soweit dieses nicht der EUStA-VO widerspricht. Das EUStA-DG setzt dieses Prinzip auch innerstaatlich um, spezifiziert, welche innerstaatlichen (verfahrens-)rechtlichen Normen nicht anwendbar sind, und legt einige von den allgemeinen (innerstaatlichen) Verfahrensvorschriften abweichende Zuständigkeitsregeln fest. Konkret bedeutet das, dass wir grundsätzlich die StPO und die verfahrensrechtlichen Sonderbestimmungen des FinStrG mit der Maßgabe allfälliger Sondervorschriften laut EUStA-DG – zB zur gerichtlichen Zuständigkeit –, und gleichzeitig die vorrangigen, unmittelbar anwendbaren Verfahrensvorschriften aus der EUStA-VO, zB die dort taxativ geregelten Gründe für die Einstellung des von der EUStA geführten Strafverfahrens, anwenden. Sollte sich, wovon ich allerdings nicht ausgehe, eine Unvereinbarkeit des EUStA-DG und der EUStA-VO ergeben, so würde die EUStA-VO vorgehen.

Die Zuständigkeit der EUStA beschränkt sich auf Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union. Welche Finanzvergehen (iSd FinStrG) der von Österreich vorab notifizierten Straftaten fallen dabei beispielsweise in die Verfolgungskompetenz der EUStA?

Maschl-Clausen: Gemäß Artikel 117 der EUStA-VO teilen die Mitgliedstaaten jene materiell-rechtlichen Bestimmungen mit, mittels derer die Straftaten der PIF-RL innerstaatlich umgesetzt wurden. Der sog einnahmenseitige Betrug laut PIF-RL wird laut Notifizierung des Bundesministeriums für Justiz durch folgende Finanzvergehen umgesetzt: Schmuggel nach § 35 Abs 1 FinStrG und Hinterziehung von Eingangsabgaben nach § 35 Abs 2 und 3 FinStrG, Abgabenhehlerei nach § 37 Abs 1 FinStrG, Schmuggel oder Hinterziehung von Eingangsabgaben als Mitglied einer Bande oder unter Gewaltanwendung nach §§ 35, 38a FinStrG, Abgabenbetrug nach § 39 FinStrG, soweit diesem Schmuggel, Hinterziehung von Eingangsabgaben oder vorsätzliche Abgabenhehlerei zugrunde liegt, und grenzüberschreitender Umsatzsteuerbetrug nach § 40 FinStrG. Natürlich sind weder die EUStA noch die nationalen Gerichte oder der Europäische Gerichtshof (kurz: EuGH) an diese Mitteilung rechtlich gebunden.

Wer – nationale Staatsanwaltschaft oder EUStA – ist zur Verfahrensführung zuständig, wenn die Straftat sowohl zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union begangen wurde als auch einen Schaden mit sich brachte, der einem anderen Opfer als der Union – zB der (Steuerhoheit der) Republik Österreich als Unionsmitgliedstaat – erwächst? Um einen praktischen Fall zu bringen: Wenn beispielsweise gemäß § 35 Abs 2 FinStrG Eingangsabgaben hinterzogen werden und hierbei sowohl Zölle als unmittelbar auf Unionsrecht basierende Einfuhrabgaben (zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union) als auch sonstige nationale Eingangsabgaben (wie etwa Einfuhrumsatzsteuer oder harmonisierte nationale Verbrauchsteuern als österreichische Bundesabgaben) verkürzt werden, welcher Staatsanwaltschaft obliegt die Strafverfolgung der Täter in solchen Fällen und warum?

Maschl-Clausen:  Die EUStA-VO sieht grundsätzlich vor, dass die EUStA dann, wenn eine Straftat zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU untrennbar mit einer anderen (nicht gegen das EU Budget gerichteten) Straftat verbunden ist, für beide Straftaten zuständig ist. Straftat laut der EUStA-VO ist dabei als mit Strafe bedrohte Handlung gemäß der StPO bzw als mit Strafe bedrohte Tat gemäß dem FinStrG zu verstehen. Die EUStA-VO meint damit also ein historisches Tatgeschehen, das mehrere Tatbestände verwirklicht, wovon einer unter die PIF-RL fällt und der andere nicht gegen das EU-Budget gerichtet ist. Allerdings konkretisiert die EUStA-VO, dass die EUStA nicht in allen diesen Fällen ihre Zuständigkeit auch ausüben darf. Die entsprechende Regelung ist durchaus komplex. Demnach darf die EUStA ihre Zuständigkeit grundsätzlich – vorbehaltlich einer konkreten Ausnahme – nur dann ausüben, wenn die (nach dem nationalen Recht vorgesehene) Höchststrafe für die Tat zum Nachteil des EU-Budgets höher ist als jene für die (nicht gegen das EU-Budget gerichtete) andere Tat. Sofern ein historisches Tatgeschehen nur einen Tatbestand erfüllt, also eine einzige Straftat nach der Diktion der EUStA-VO vorliegt, ist ein Schadensvergleich anzustellen. Diesfalls darf die EUStA nur dann tätig werden, wenn der Schaden zum Nachteil des EU-Budgets höher ist als jener des anderen Opfers (zB der Republik Österreich). Auch dazu gibt es eine Ausnahme in Form der Zustimmung der nationalen Behörden. Die Anwendung dieser komplexen Bestimmungen bereitet uns in der Praxis immer wieder Kopfzerbrechen. Umgelegt auf den Fall in der Fragestellung bedeutet das Folgendes: Sofern die Einfuhrzölle höher als die im Regelfall auch hinterzogene Einfuhrumsatzsteuer und allfällig hinterzogene nationale Verbrauchssteuern (zB Tabaksteuer) sind – denkbar ist zB die Umgehung von Antidumpingzöllen –, ermittelt die EUStA das gesamte historische Tatgeschehen, einschließlich der Einfuhrumsatzsteuer und der nationalen Verbrauchssteuer zum Schaden des Mitgliedstaats, also der Republik Österreich. Wenn aber, was der Regelfall ist, die Einfuhrzölle niedriger als die Einfuhrumsatzsteuer und allfällige nationale Verbrauchssteuern sind, darf die EUStA grundsätzlich nicht ermitteln, es sei denn, sie ist besser in der Lage als eine nationale Staatsanwaltschaft, das Verfahren zu führen, und die zuständigen nationalen Behörden zugestimmt haben. In Österreich obliegt diese Zustimmung der (sonst) zuständigen Staatsanwaltschaft. Die ersten Monate operativer Erfahrung haben gezeigt, dass die innerstaatliche Rechtslage zwischen den einzelnen teilnehmenden Mitgliedstaaten erheblich differiert. Da die EUStA-VO unterscheidet, ob ein historisches Geschehen (zB Unterdeklarierung von einzuführenden Waren) unter mehrere Tatbestände oder (nur) unter einen zu subsumieren ist – und die Antwort auf diese Frage variiert von Staat zu Staat – und daran unterschiedliche Zuständigkeitsfolgen knüpft, erzielen wir unterschiedliche Antworten und ein asymmetrisches Ergebnis zur Zuständigkeitsfrage, abhängig von der nationalen Aus gestaltung der Finanzvergehen in den teilnehmenden
Mitgliedstaaten.

Die Anwendung dieser komplexen Bestimmungen bereitet uns in der Praxis immer wieder Kopfzerbrechen.

Die (nationale) Umsatzsteuer fußt zwar auf der Mehrwertsteuerrichtlinie der Union, ist aber eine nationale Abgabe der einzelnen Mitgliedstaaten. Warum wirkt Umsatzsteuerdelinquenz dennoch zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union und lässt sich daraus – welche? – sachliche Zuständigkeit der EUStA im Bereich des Umsatzsteuerstrafrechts ableiten?

Maschl-Clausen:  Die Umsatzsteuer ist eine nationale Abgabe und damit auf den ersten Blick nicht vom EU-Budget umfasst. Da allerdings die EU-Mitgliedstaaten jährlich einen bestimmten Prozentsatz ihrer Umsatzsteuereinnahmen an die Union abführen müssen, gilt auch die Umsatzsteuer in diesem Rahmen als EU-Eigenmittel. Eine Hinterziehung der (nationalen) Umsatzsteuer wirkt sich letztlich negativ auf die EU-Eigenmittel, dh die Einnahmen der EU, aus. Diese Zwitterstellung der Umsatzsteuer spiegelt sich in den Zuständigkeitsregeln der EUStA wieder. So hat der EU-Gesetzgeber – wohl als Kompromiss zwischen europäischen und nationalen Interessen – festgelegt, dass die EUStA für Straftaten in Zusammenhang mit der Umsatzsteuer (nur) dann zuständig sein soll, wenn die Taten mit dem Hoheitsgebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten verbunden sind und einen Gesamtschaden von mindestens 10 Millionen Euro umfassen. Anlässlich eines Falles hatten wir die Frage zu beantworten, ob die EUStA Zuständigkeit für folgendes Tatgeschehen hat: Eine kriminelle Vereinigung importiert chinesische Waren nach Belgien, wobei bei der Warenwert erheblich zu niedrig deklariert wird. Der Zolltarif von 8% (kein Antidumpingzoll) ist anwendbar. Die (in Belgien) hinterzogene Einfuhrumsatzsteuer beträgt 21% und ist damit weit höher als der Einfuhrzoll. Der dem Königreich Belgien entstandene Schaden beträgt ca 7,5 Millionen Euro. Der der Europäischen Union entstandene (Zoll-)Schaden ist naturgemäß weit geringer. Sie erinnern sich an meine vorherigen Ausführungen, wonach die EUStA in diesem Fall nur mit Zustimmung der zuständigen nationalen Behörden ermitteln dürfte, sofern die EUStA besser zur Verfolgung in der Lage sei. Nun hat die kriminelle Gruppierung ihre Tätigkeit verlagert und importiert Waren der gleichen Kategorie aus China in die Niederlande, wobei deren Wert wiederum grob zu niedrig deklariert wird. Der (den Niederlanden) entstandene Schaden aus Einfuhrumsatzsteuer ist abermals weit höher als jener der EU aus den Zöllen, der Schaden an Einfuhrumsatzsteuer beträgt ca 3,5 Millionen. Die Frage, die sich uns gestellt hat, ist: Können wir die Zuständigkeit der EUStA originär auf den Umsatzsteuerbetrug gründen? Wir haben dazu folgende Überlegungen angestellt: Weder die EUStA-VO noch die PIF-RL limitieren den Anwendungsbereich auf ein Karussell-Betrugssystem. Die PIFRL nennt den viel weiteren Begriff der schwerwiegenden Verstöße gegen das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (Art 2(2)). Ausgehend von der ständigen Rechtsprechung des EuGH (zB C-272/13), wonach die Einfuhrumsatzsteuer Teil des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist, und der Überlegung, dass das Tatgeschehen das Territorium von zwei (an der EUStA teilnehmenden) Mitgliedstaaten betrifft und der gesamte Umsatzsteuerschaden (in beiden Ländern addiert) 10 Millionen Euro übersteigt, haben wir unsere Zuständigkeit bejaht. Ob unsere Überlegungen richtig sind, werden letzten Endes die Gerichte zu entscheiden haben.

Beginnt ein in die Zuständigkeit der EUStA fallendes Umsatzsteuerstraf- oder Zollstrafverfahren verfahrensrechtlich auf dieselbe Art und Weise wie ein entsprechendes von der nationalen Staatsanwaltschaft zu führendes Ermittlungsverfahren, das etwa die Finanzstrafbehörde einleitet und nach dem Dritten Unterabschnitt des FinStrG in Gerichtszuständigkeit führt?

Maschl-Clausen: In Umsetzung des Grundsatzes, dass der EUStA in der Zuständigkeitsausübung Vorrang gegenüber nationalen Behörden zukommt, regelt das EUStA-DG in § 9, dass das Strafverfahren prinzipiell von der EUStA einzuleiten ist. Ein Einleiten durch die Kriminalpolizei oder die Finanzstrafbehörde ist nur dann zulässig, wenn Maßnahmen zu setzen sind, die keinen Aufschub dulden.

Wer entscheidet im Falle von Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen EUStA und den nationalen Staatsanwaltschaften?

Maschl-Clausen: Laut § 7 des EUStA-DG entscheidet über Zuständigkeitskonflikte zwischen der EUStA und einer (nationalen) Staatsanwaltschaft der Oberste Gerichtshof als Dreiersenat, auf Verlangen nur eines Mitgliedes des Dreiersenates hat der einfache Senat die Entscheidung zu treffen. Damit ist der innerstaatliche Gesetzgeber von der Vorgabe des EU-Gesetzgebers (Art 26 Abs 6 EUStA-VO) abgewichen.
Demnach käme diese Entscheidung jenen nationalen Behörden, die für die Verteilung der Strafverfolgungszuständigkeit auf nationaler Ebene zuständig sind, zu. Das wäre in Österreich die Generalprokuratur. Dennoch ist aus meiner Sicht diese Regelung zu begrüßen, weil sie die Vorlage
von Zuständigkeitsfragen durch den Obersten Gerichtshof an den EuGH (im Weg eines Ersuchens um Vorabentscheidung, das nur Gerichten offensteht) ermöglicht

In welchem Mitgliedstaat bringt die EUStA nach Abschluss der Ermittlungen Anklage ein?

Maschl-Clausen: Die EUStA-VO enthält einen abschließenden Katalog an Kriterien zur Bestimmung des Mitgliedstaats, in dem ein Fall zur Anklage zu bringen ist. Damit soll – im Sinne der Rechtssicherheit – das sog „Forum Shopping“ verhindert werden. Darunter wird die Möglichkeit der Strafverfolgung im Staat mit der für die staatsanwaltschaftliche Behörde günstigsten Bedingungen, zB den höchsten Strafen oder den längsten Verjährungsfristen, verstanden. Der EU-Gesetzgeber hat als Anknüpfungspunkt grundsätzlich den verfahrensführenden Delegierten Europäischen Staatsanwalt gewählt. Im Staat, nach dessen Recht das Ermittlungsverfahren geführt wird, soll grundsätzlich auch Anklage erhoben werden. Die Ständige Kammer kann im Einzelfall davon abweichend beschließen, dass in einem anderen Mitgliedstaat Anklage zu erheben ist, wenn dies durch „hinreichende Gründe“ gerechtfertigt ist. Dabei hat sich die Ständige Kammer an den folgenden Kriterien in der angegebenen Rangordnung, die auch schon die Zuweisung im Ermittlungsstadium regeln, zu orientieren: Zunächst jener Staat, in dem der Schwerpunkt der strafbaren Handlung liegt, oder, falls mehrere miteinander verbundene Straftaten innerhalb des Zuständigkeitsbereichs der EUStA begangen wurden, jener Staat, in dem der Großteil der Straftaten begangen wurde; subsidiär der Staat des gewöhnlichen Aufenthaltsorts des Verdächtigen oder Beschuldigten, nachfolgend der Staat der Staatsangehörigkeit des Verdächtigen oder Beschuldigten und zuletzt der Ort, an dem der Hauptteil des finanziellen Schadens eingetreten ist.

Falls die EUStA das Ermittlungsverfahren einstellt, besteht auch hier die Möglichkeit eines Fortführungsantrages? Welches Gericht wäre für die Anfechtung einer Einstellungsentscheidung der EUStA gegebenenfalls zuständig?

Maschl-Clausen: Ja, gegen die Einstellung ist ein Fortführungsantrag gemäß § 195 StPO an das Landesgericht zulässig. Daneben schafft die EUStA-VO auch eine – allerdings limitierte – Zuständigkeit des EuGH. Sofern ein Einstellungsbeschluss der EUStA unmittelbar auf der Grundlage des Unionsrechts angefochten wird, kommt dem EuGH die Kontrolle nach Nichtigkeitsklage (Artikel 263 Abs 4
AEUV) zu. Eine strikte Unterscheidung, wann eine Anfechtung „unmittelbar auf Grundlage des Unionsrechts“ vorliegt und wann eine solche auf nationalem Recht basiert, könnte im Einzelfall schwierig sein und wird letztlich wohl gerichtlicher Klarstellung durch den EuGH bedürfen.

Was wünschen Sie sich für Ihre kommenden Berufsjahre bei der EUStA in Luxemburg?

Maschl-Clausen: Der EUStA wünsche ich, dass die weitere Entwicklung so erfolgreich wie der Start in die operative Arbeit verlaufen möge. Ich wünsche ihr, dass sie dem Versprechen, Strafverfahren zügig und effizient zu führen und Täter von Straftaten zum Nachteil des EU-Budgets zur Anklage bringen zu können, auch in Zukunft gerecht wird. Und mir selbst wünsche ich weiterhin so viel Neugierde, Freude und Enthusiasmus wie schon bisher beim weiteren Aufbau der Behörde und beim Lösen immer neuer Rechtsfragen.

Vielen Dank für das fachlich hoch interessante und praktisch äußerst aufschlussreiche Interview! Sie haben damit unserer geschätzten Leserschaft einen tiefen Einblick in Grundlagen, Arbeit und Wirken der EUStA als neuer, grenzüberschreitend agierender Strafverfolgungsbehörde gewährt, nunmehr supranationale Speerspitze der Mitgliedstaaten bei qualifizierter Umsatzsteuer- und Zolldelinquenz. Ich wünsche Ihnen auch weiterhin viel Erfolg und Freude bei Ihrer täglichen Arbeit in Luxemburg – alles Gute!

Mag. Ingrid Maschl-Clausen
ist Europäische Staatsanwältin bei der Europäischen Staatsanwaltschaft in Luxemburg. Zuvor war sie als Oberstaatsanwältin bei der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft und als Nationales Mitglied Österreichs bei Eurojust tätig. Sie verfügt über umfassende praktische Erfahrung im europäischen und im österreichischen Strafrecht. 

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