Nachhaltigkeitsrecht Kolumne #12

Klimaschutz auf höchster gerichtlicher Ebene: Rechtsgutachten von IGH, ISGH und IAmGMR

Juli 2024

Der Herausgabezeitpunkt dieses Heftes ist geprägt von großen Erwartungen an internationale Gerichte und deren Rechtsprechung und Rechtsgutachten in Sachen Klimaschutz. In einer bisher noch nicht vorgekommenen Konstellation liegen sowohl dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag,[1] dem Internationalen Seegerichtshof (ISGH) in Hamburg[2] und dem Inter-Amerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (IAmGMR) in SanJose[3] Anträge vor, Gutachten zu erstellen, die sich im Kern mit fast gleichen völkerrechtlichen Fragen beschäftigen: Welche Verpflichtungen haben Staaten, das Klimasystem und sowohl Menschenrechte als auch die Meeresumwelt gegen die Auswirkungen des Klimawandels zu schützen? 

Text: Christina Voigt

Die Kolumne ist Teil des Editorials der Fachzeitschrift "Nachhaltigkeit. Zeitschrift für das Recht der nachhaltigen Entwicklung", Ausgabe 2/2024.

Letztendlich wird es darum gehen, festzulegen was Staaten tun müssen, um gemäß des Pariser Vertragsabkommens die Erderwärmung auf 1,5°C zu beschränken. [4] Das wirft sowohl Fragen von intergenerationeller Verantwortung und globaler Gerechtigkeit auf als auch Fragen über die Rolle der Wissenschaft und vorsorglichen Handelns, um größere Risiken zu vermeiden. Ein erstes Beispiel einer solchen Konkretisierung staatlicher Verpflichtungen liegt nun durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EGMR) für Menschenrechte zur Schweizer Klimaklage vor.[5] Der EGMR räumte kein Ermessen in Bezug auf das Ziel des staatlichen Handelns ein: Karbonneutralität (das bedeutet Netto-Null CO2 Emissionen) im Jahr 2050 ist ein Muss. Lediglich die Maßnahmen, um das Ziel zu erreichen, fallen noch in den Ermessensspielraum der Staaten – aber auch den hat das Gericht bedeutend eingeengt.[6] Ein neuer Schritt kam vom ISGH. Im Gutachten vom 21. Mai 2024 hat der Gerichtshof festgestellt, dass Treibhausgase eine Verschmutzung der Meeresumwelt gemäß dem Uno-Seerechtsübereinkommen von 1982 darstellen.[7] Daher haben die Vertragsstaaten die Verpflichtung, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Meeresverschmutzung durch Treibhausgasemissionen zu verhindern, zu verringern und zu kontrollieren. Angesichts des hohen Risikos einer schwerwiegenden Schädigung der Meeresumwelt ist der Standard streng und die Sorgfaltspflicht besonders groß.[8] Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass das Pariser Klimaziel, die Erwärmung auf 1,5°C zu begrenzen, in das Seerechtsübereinkommen hineingelesen wurde.[9]

Kein internationales Abkommen, auch nicht das Übereinkommen von Paris, beinhaltet konkrete, materielle Pflichten, Treibhausgasemissionen zu senken. Eine Klärung durch die Gerichte kann daher weitreichende Folgen haben.

Kein internationales Abkommen, auch nicht das Übereinkommen von Paris, beinhaltet konkrete, materielle Pflichten, Treibhausgasemissionen zu senken. Eine Klärung durch die Gerichte kann daher weitreichende Folgen haben.

Zum einen wird / würde eine Lücke im Völkerrecht geschlossen und stärkere Klarheit und Vorhersehbarkeit geschaffen werden, die vor allem auch für die Industrie in der nachhaltigen Umstellung auf die Karbonneutralität (und nachfolgende -negativität) wichtig sind. Zum anderen wird eine Klärung der Rechtsfragen auch für die nationale Rechtsetzung und vor allem Rechtsprechung von Bedeutung sein, denn Klimaklagen werden weiter eingereicht. Eine klare(re) internationale Rechtslage kann nationale Gerichte in Auslegungsfragen klimarelevanter Gesetze oder Verfassungsbestimmungen unterstützen.

Im Allgemeinen scheint durch die Rechtsgutachtenprozesse an den internationalen Gerichten das Bewusstsein über die Rolle des (Völker-)Rechtes in Klimafragen, und die Auseinandersetzung mit der Bedeutung und Reichweite des Rechtsstaatsprinzips in Fragen der Nachhaltigkeit gestiegen zu sein. Dennoch sind die Parallelprozesse an den unterschiedlichen internationalen Gerichtshöfen nicht ohne
Risiken. Es gibt keine formellen Kanäle für eine Verständigung und Kommunikation unter den Gerichten. Jedes hat seine eigenen Prozessregeln und Zuständigkeit. Es besteht daher die Gefahr, dass die Gutachten unterschiedliche rechtliche Einschätzungen und Ansätze enthalten könnten. Solche Unterschiede würden nicht nur zu einer stärkeren Fragmentierung des Völkerrechts beitragen, sie könnte auch einer effektiven Klimapolitik entgegenwirken.

Eine weitere Herausforderung liegt im Verhältnis zwischen Diplomatie und internationaler Gerichtsbarkeit. Der Klimawandel ist ein globales Problem und kann nur durch multilaterale Lösungen effektiv bekämpft werden. Die internationalen Verhandlungen unter der Regie der Vereinten Nationen haben – wenn auch nur sehr langsam – ein internationales Regelwerk geschaffen, welches von den Mitgliedstaaten grundsätzlich als legitim, effektiv und fair angesehen wird.[10] Das Übereinkommen von Paris setzt grundlegend wichtige Ziele vor, und vereint 195 Staaten in koordinierten Prozessen, die darauf abzielen, die national festgelegten Klimabeiträge (sogenannte NDCs) der Staaten schrittweise zu verstärken. Zwar ist die Klimaambition in den Beiträgen noch nicht hinreichend auf das 1,5°C-Ziel ausgerichtet,[11] aber die Staaten darauf hinzuführen ist ja gerade der Sinn und Zweck des Abkommens. Die im Abkommen verankerten Prozesse laufen erst in diesem und im kommenden Jahr an. Zum ersten Mal – spätestens am 31. Dezember 2024 – müssen alle Vertragsstaaten der rechtlichen Verpflichtung nachkommen, einen zweijährlichen Bericht (Biennial Transparency Report) einzureichen, in dem sie darlegen müssen, wie und in welchem Maß sie ihre gegenwärtigen Beiträge umsetzen und erreichen. [12] Diese Berichterstattung muss daraufhin jedes zweite Jahr erfolgen – und wird eine Flut an Daten und Fakten hervorbringen, die für Entscheidungsträger, aber auch für Forschung und Lehre von Bedeutung sein wird.

Für eine nachhaltige Klimapolitik noch wichtiger ist jedoch die völkerrechtliche Verpflichtung aller Vertragsstaaten, im Jahr 2025 einen neuen, sukzessiven Klimabeitrag einzureichen.[13] Die Frist hierfür ist spätesten der 10. Februar 2025.[14] „Sukzessivität“ in diesem Sinne bedeutet, dass der Planungszeitraum im Vergleich zu den gegenwärtigen Klimaplänen erweitert werden muss – erwartungsgemäß auf 2035.[15] Auch auf das Ergebnis der globalen Bestandsaufnahme (Dubai 2023) müssen die Staaten eingehen.[16] Darüber hinaus sollten die neuen Beiträge eine Steigerung im Verhältnis zu den gegenwärtigen Plänen beinhalten und die Klimaambitionen auf das höchstmögliche Niveau erhöhen.[17] Das sollte bedeuten, dass Staaten mit einer größeren Verantwortung für Klimagasausstöße und höherer Handlungskraft bereits „vor“ 2050 die Karbonneutralität erreichen müssen, um es Schwellenländer, die mehr Zeit brauchen, zu ermöglichen, ebenfalls das globale netto-Null Ziel bis 2050 zu erreichen.[18]

Die 2025-Klimapläne sind daher maßgebend dafür, ob die Staatengemeinschaft kollektiv die Erderwärmung auf das vorgelegte Ziel begrenzen kann.[19] Eine Unterstützung dieser Prozesse durch die Rechtsgutachten der internationalen Gerichte kann hilfreich sein und die Staaten in ihren Verpflichtungen bestärken, vorausgesetzt dass die Gutachten mit dem Übereinkommen von Paris vereinbar sind. Sollte das nicht der Fall sein, besteht die Gefahr, dass diese zentralen multilateralen Prozesse unterwandert werden – und das wäre das denkbar schlechteste Resultat.

Es bleibt jedoch zu hoffen, dass durch die internationalen Gerichtsprozesse der Druck auf nationale Entscheidungsträger erhöht wird. Der EGMR hat in der Schweizer Klimaklage bereits konkrete Maßgaben vorgelegt und der ISGH hat nachgezogen. Die Umsetzung – aber auch Harmonisierung – dieser Standards wird maßgeblich sein für eine rechtmäßige Klimapolitik.

 


[1] ICJ, Obligations of states in respect of climate change, https://www.icj-cij.org/case/187 (13. 5. 2024).
[2] ITLOS, Request for an Advisory Opinion submitted by the Commission of Small Island States on Climate Change and International Law, https://www.itlos.org/en/main/cases/list-of-cases/request-for-an-advisory-opinion-submitted-by-the-commission-of-small-island-states-on-climate-change-and-international-law-request-for-advisory-opinion-submitted-to-the-tribunal/ (13. 5. 2024).
[3] IACtHR, Request for an advisory opinion on the Climate Emergency and Human Rights submitted to the Inter- American Court of Human Rights by the Republic of Colombia and the Republic of Chile, https://www.corteidh.or.cr/docs/comunicados/cp_27_2024_eng.pdf (13. 5. 2024
[4] Übereinkommen von Paris, Art 2.1(a).
[5] EGMR 9. 4. 2024 – 53600/20 Verein Klimaseniorinnen Schweiz u.a. v. Schweiz.
[6] EGMR 9. 4. 2024 – 53600/20, § 548-550.
[7] ITLOS, Advisory Opinion, 21. 5. 2024
https://www.itlos.org/fileadmin/itlos/documents/cases/31/Advisory_Opinion/C31_Adv_Op_21.05.2024_orig.pdf.
[8] ITLOS, 21. 5. 2024, § 223-243.
[9] ITLOS, 21. 5. 2024, § 222.
[10] Bodansky, The legal character of the Paris Agreement, RECIEL 25/2016, 142–150.
[11] UNFCCC Secretariat, Nationally determined contributions under the Paris Agreement, Synthesis report, FCCC/PA/CMA/2023/12, 14. 11. 2023.
[12] Übereinkommen von Paris, Art 13.7(b).
[13] Übereinkommen von Paris, Art 4.2 und 4.9.
[14] Decision 1/CP.21, Adoption of the Paris Agreement, para 25 und Decision 1/CMA.5.
[15] Decision 6/CMA.3 Common time frames for nationally determined contributions referred to in Article 4, paragraph 10.
[16] Übereinkommen von Paris, Art 14.3 und 4.9., Decision 1/CMA.5 Outcome of the First Global Stocktake, para 166.
[17] Übereinkommen von Paris, Art 4.3.
[18] Voigt, The Power of the Paris Agreement in International Climate Litigation, RECIEL 32/2023, 237–249.
[19] UN Climate Change Secretariat, Message to Parties and Observer States, From Vision to Reality: NDCs 3.0 –bending the curve, 14. 3. 2024, https://unfccc.int/sites/default/files/resource/message_to_parties_ndcs_%203.0.pdf (13. 5. 2024).

Prof. Dr. Christina Voigt

ist Professorin an der Universität Oslo, Department of Public and International Law und Vorsitzende der IUCN World Commission on Environmental Law (WCEL).
 

Foto: © University of Oslo

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