Nachhaltigkeitsrecht Kolumne #3

Was der Ukraine-Krieg mit Nachhaltigkeitsrecht zu tun hat

Mai 2022

Mit einem seit Ende des Zweiten Weltkriegs beispiellosen Akt der Aggression hat Russland im Februar 2022 – was kaum jemand hinzufügt, nach der Annexion der Krim bereits zum zweiten Mal – die Ukraine überfallen und damit das völkerrechtliche Gewaltverbot der UN-Charta verletzt. Zugleich unterminiert Russland die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen und kanalisiert seine ohnedies stagnierende Volkswirtschaft auf die Verwandlung pulsierender Städte in Betongeröll anstatt auf die dringende Bewältigung globaler Herausforderungen in der Klimakrise. Sustainable Development Goal 16 postuliert zudem klar ein „Recht auf Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen“. Dieses Ziel ist nunmehr auf dem gesamten europäischen Kontinent bedroht, allerdings nicht nur durch die russische Aggression, sondern auch durch die mitgliedstaatlichen Reaktionen darauf sowie durch die bereits seit längerem andauernde Rechtsstaatlichkeitskrise in einer Reihe von Mitgliedstaaten.

Text: Markus P. Beham und Berthold Hofbauer 

Ringen um europäische Positionen

Während Polen aufgrund seiner Partikularinteressen im Hinblick auf die russische Bedrohung den Wert einer solidarischen Union wiederentdeckt zu haben scheint, gesellen sich dem schon üblichen Verdächtigen Ungarn auch Deutschland und Österreich wiederholt als obstruktive Akteure im Rat hinzu. Bisher konnte man sich daher erst auf fünf (mit einem sechsten auf dem Weg) – dem anhaltenden Kriegstreiben nach zu urteilen zumindest nicht ausreichend effektive – Sanktionspakete gegen Russland einigen.

Neben dem naheliegenden Militärgüter-Embargo sind insbesondere die Beschränkungen des EU-Finanzmarktes, umfassende Exportverbote und eine „Schwarze Liste“ vom Geschäftsleben auszuschließender Unternehmen hervorzuheben. Im Bereich der Importverbote sind im Wesentlichen nur die Einfuhr russischer Eisen- und Stahlerzeugnisse, Kohle, Holz, Zement, Gummiprodukte, Meeresfrüchte und Spirituosen verboten. Folglich bleibt Russland weiterhin Importeur und vor allem Rohstofflieferant der Mitgliedstaaten der Union, ganz speziell für Erdgas und ‑öl. Schätzungen zufolge flossen zuletzt täglich rund EUR 400 Millionen für russisches Gas und rund EUR 450 Millionen für russisches Öl nach Russland. Zumindest unklar ist weiterhin, ob die Zahlung in EUR und USD oder – entsprechend Putins Forderungde facto in Rubel erfolgt und somit zusätzlich die russische Staatswährung stabilisiert wird. Dies ist im Hinblick auf die Verpflichtung der Staatengemeinschaft durch schwerwiegende Völkerrechtsverletzungen herbeigeführte Zustände nicht als rechtmäßig anzuerkennen oder in irgendeiner Form zu deren Aufrechterhaltung beizutragen höchst bedenklich.
 

Kein absolutes Vergabeverbot für russische Unternehmen

Selbst wenn die Privatwirtschaft von Import- und Einkaufsverboten im Wesentlichen unberührt bleibt, sollte für die Verwendung öffentlicher Gelder doch ein strikterer Standard gelten. Die öffentliche Hand unterliegt bereits im Hinblick auf die völkerrechtlichen Verpflichtungen besonderen Maßstäben und besitzt in ihrer Ausprägung als staatlicher Einkauf eine Leitfunktion für die gesamte Wirtschaft der Union – immerhin macht das öffentliche Auftragswesen der EU ein Handelsvolumen von knapp EUR 2,5 Billionen pro Jahr aus. Dem Grunde nach diesen Überlegungen folgend hat die EU angekündigt, mit ihrem 5. Sanktionspaket Russland von öffentlichen Auftragsvergaben in Europa gänzlich abzukoppeln. Konkret wurde ein „vollständiges Verbot der Teilnahme russischer Staatsangehöriger und russischer Einrichtungen an öffentlichen Ausschreibungen in der EU“ mit sofortiger Wirkung bekannt gemacht („Vergabeverbot“).

Die öffentliche Hand unterliegt bereits im Hinblick auf die völkerrechtlichen Verpflichtungen besonderen Maßstäben und besitzt in ihrer Ausprägung als staatlicher Einkauf eine Leitfunktion für die gesamte Wirtschaft der Union (...)

Dies ist dem Grunde nach kein Novum, denn der Ausschluss russischer Unternehmen von öffentlichen Ausschreibungen innerhalb der EU war schon zuvor vergaberechtlich zulässig. Die Europäische Kommission hat bereits in einer Mitteilung vom 24. Juli 2019 bestätigt, dass eine Diskriminierung von Bietern aus Drittstaaten im Sinne des europäischen Wettbewerbs aus unterschiedlichen Gründen legitim sein kann. Statt nunmehr die Chance zur Erweiterung des Maßnahmenrepertoires zu nutzen, wird das „Vergabeverbot“ der erwähnten Ankündigung der EU sogleich in einem zweiten Satz relativiert: „Die zuständigen Behörden können begrenzte Ausnahmen zulassen, wenn keine tragfähige Alternative vorhanden ist.“

Ein näherer Blick auf die konkreten Verordnungen und Beschlüsse decken leider weitere, teils erhebliche Defizite auf. So lässt das Sanktionspaket Raum für zahlreiche Ausnahmen aus dem Vergaberecht, etwa für den Abschluss von Forschungsaufträgen, Miet- oder Arbeitsverträgen. Solche Beschaffungen unterliegen nicht dem Anwendungsbereich des Vergaberegimes und damit auch nicht dem öffentlichem Auftragsverbot an russische Unternehmer*innen. Hinzu kommt eine generelle Öffnungsklausel, wonach das „Vergabeverbot“ dann nicht gilt, wenn „unbedingt“ benötigte Güter oder Dienstleistungen ausschließlich oder nur in ausreichender Menge von russischen Unternehmen bereitgestellt werden können. Russische Kohle erfährt sogar eine weitreichendere Lockerung und darf weiterhin bis zum 10. August 2022 mit öffentlichen Geldern eingekauft werden; dies ganz unabhängig davon, ob mögliche Alternativen bestehen.

Weiters sind russische Subunternehmer und russische Lieferanten nur dann vom Vergabeverbot umfasst, wenn sie mehr als 10 % der Auftragssumme erhalten. Da im Grunde offengelassen wird, wie sich diese 10 %-Schranke konkret berechnet, könnte diese auch so (miss-)verstanden werden, dass jeder russische Subunternehmer oder Lieferant für sich genommen 10 % von der Auftragssumme erhalten darf. Die ausdrückliche Zulassung von Lieferanten einer kriegsführenden Nation, die im dringenden Tatverdacht steht, Kriegsverbrechen und schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben, untergräbt die Glaubwürdigkeit europäischer Ambitionen zur Sicherstellung einer menschenrechtskonformen Lieferkette.

Schließlich sind vom Vergabeverbot nur Aufträge im „Oberschwellenbereich“ umfasst. Dieser liegt bei Bauaufträgen derzeit bei EUR 5,382 Millionen und bei Dienst- und Lieferaufträgen bei EUR 215.000. Da in Österreich etwa rund 89% aller öffentlichen Aufträge sogar unterhalb von netto EUR 100.000 liegen, könnten öffentliche Aufträge im Wert von insgesamt EUR 55 Milliarden pro Jahr – vom Sanktionsregime unbeeindruckt – an russische Unternehmen vergeben werden.
 

Krisen als Litmustest eines nachhaltigkeitsrechtlichen Handlungsauftrags

Aus nachhaltigkeitsrechtlicher Sicht, die auch eine wertebasierte, resiliente und beständige Gesetzgebung voraussetzt, ist das bestehende Sanktionsregime daher mit guten Gründen als unzureichend zu qualifizieren und offenbart in den darin zum Ausdruck kommenden mitgliedstaatlichen Partikularinteressen das noch starke Fundament rein wirtschaftlicher Prärogativen uneingeschränkten Wachstums. Der nachhaltigkeitsrechtliche Anspruch, dem völker- und europarechtlich verankertem Verständnis nachhaltiger und bestenfalls auch klimaneutraler Entwicklung eine normative Durchschlagskraft zu geben, erscheint damit zumindest in Zweifel gezogen.

Dass gerade Deutschland und Österreich die gesamteuropäische Gangart gegenüber Russland einbremsen, ist im Hinblick auf ihre besondere historische Verantwortung ernüchternd und ein offenes Eingeständnis hinsichtlich der Gewichtung rein wirtschaftlicher Interessen in der ethisch klar unzulässigen Abwägung mit ukrainischen Menschenleben. Neben der Unzulänglichkeit im Hinblick auf SDG 16 erweckt der Blick unter die vom Ukrainekrieg aufgerissene Oberfläche politischer Bekundungen leider wenig Optimismus für die Bewältigung der Nachhaltigkeitswende und dem dafür notwendigen gesamtgesellschaftlichen Kraftakt.

Markus P. Beham

ist Habilitand an der Universität Passau am Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Völkerrecht, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht bei Prof. Dr. Hans-Georg Dederer und lehrt am Institut für Europarecht, Internationales Recht und Rechtsvergleichung der Universität Wien.

Berthold Hofbauer

ist Rechtsanwalt und Partner bei Heid & Partner Rechtsanwälte. Seine Spezialgebiete sind das Vergaberecht, das Nachhaltigkeitsrecht (Schwerpunkt: Green Public Procurement) und die Vergabe-Compliance. Weiters ist er Herausgeber der Zeitschrift für Nachhaltigkeitsrecht (NR).

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