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Nachhaltigkeitsrecht Kolumne #8

Grüner Industrieplan: Der Entwurf der „Netto-Null-Industrie-Verordnung“ und das Vergaberecht

Juli 2023

Die Europäische Kommission hat bereits im Juli 2021 ein umfassendes Paket vorgeschlagen, das die Emissionen der europäischen Industrie bis zum Jahr 2050 auf Netto-Null reduzieren soll (der „Green Deal“[1]). Das Paket umfasst verschiedene Maßnahmen, wie die Einführung eines CO2-Grenzausgleichssystems, die Förderung von Investitionen in saubere Technologien und die Stärkung des europäischen Emissionshandelssystems. Ziel ist es, die europäische Industrie langfristig wettbewerbsfähig und gleichzeitig klimafreundlich zu machen.

Text: Stefan M. Ullreich und Stefan Reisinger

Die Kolumne ist Teil des Editorials der Fachzeitschrift "Nachhaltigkeit. Zeitschrift für das Recht der nachhaltigen Entwicklung", Ausgabe 2/2023.

Am 16. März 2023 hat die Europäische Kommission als Bestandteil des Green Deals ihren Vorschlag für eine „Netto-Null-Industrie-Verordnung“ (in der Folge auch „NNIV-Entwurf“) publiziert.[1] „Netto-Null“ bedeutet im Allgemeinen, ein Gleichgewicht zwischen der Menge der produzierten und jener der Atmosphäre entzogenen Emissionen zu erreichen, um die globale Erwärmung zu reduzieren.

Geltungsbereich

Ziel der Verordnung soll sein, dass die Produktionskapazität für die strategisch wichtigsten „Netto-Null-Technologien“ – also Technologien, die einen wesentlichen Beitrag zur Dekarbonisierung leisten, wie die im Anhang zum Verordnungsentwurf genannten Bereiche Photovoltaik und Solarthermie, Onshore-Windenergie und erneuerbare Offshore-Energie, Batterien und Speicherung oder Elektrolyseure und Brennstoffzellen – bis 2030 mindestens 40 % des Bedarfs der Europäischen Union decken.

Ziel der Verordnung soll sein, dass die Produktionskapazität für die strategisch wichtigsten „Netto-Null-Technologien“ (...) bis 2030 mindestens 40 % des Bedarfs der Europäischen Union decken.

Einhaltung des EU-Vergaberechts und internationaler Vereinbarungen

Einer der „Bausteine“ des Verordnungsentwurfs zur Förderung von Investitionen in die Fertigung von Netto-Null-Technologien bildet die Erschließung von Märkten – Auftraggeber müssen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge und bei Auktionen in diesem Kontext künftig Nachhaltigkeits- und Resilienzkriterien im Zusammenhang mit der ökologischen Nachhaltigkeit, Innovation und Systemintegration berücksichtigen.[1] Die Bestimmungen des EU-Vergaberechts[2] sowie internationaler Vereinbarungen der EU (wie insbesondere dem Government Procurement Agreement (GPA)der Welthandelsorganisation[3]) sollen von der Verordnung jedoch grundsätzlich unberührt bleiben.[4]

Zu beachtende Zuschlagskriterien

Nach der Kernbestimmung des Art 19 NNIV-Entwurf muss der Zuschlag bei Vergaben von Aufträgen für die bereits erwähnten im Anhang zum NNIV-Entwurf angeführten Netto-Null-Technologien (zB Photovoltaik, Batterien) dem wirtschaftlich günstigsten Angebot mit dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis (sogenanntes „Bestbieterprinzip“) erteilt werden, wobei grundsätzlich folgende kumulative Kriterien (die einen „Beitrag des Angebots zu Nachhaltigkeit und Resilienz“ bilden sollen) zu berücksichtigen sind:

  • Ökologische Nachhaltigkeit, die über die in den geltenden Rechtsvorschriften festgelegten Mindestanforderungen hinausgeht,
  • für den Fall, dass eine innovative Lösung entwickelt werden muss: Die Wirkungen und Qualität des Umsetzungsplans,
  • gegebenenfalls der Beitrag des Angebots zur Integration des Energiesystems und
  • der Beitrag des Angebots zur Resilienz, wobei der Anteil der Produkte, die aus einer einzigen Bezugsquelle stammen, berücksichtigt werden muss.

Die Gewichtung dieser Kriterien muss dabei grundsätzlich zwischen 15 % und 30 % der Zuschlagskriterien liegen.

Ausnahmebestimmung

Art 19 NNIV-Entwurf normiert in Abs 4 jedoch auch eine Ausnahme von diesen Vorgaben: Öffentliche Auftraggeber sollen „nicht verpflichtet [sein], die Erwägungen in Bezug auf den Beitrag des Angebots zu Nachhaltigkeit und Resilienz von Netto-Null-Technologien anzuwenden“, wenn dadurch entweder unverhältnismäßig hohe Kosten (wobei bereits Kostenunterschiede von mehr als 10 % als unverhältnismäßig gelten) verursacht werden würden oder die solcherart durchgeführte Beschaffung zu Inkompatibilität oder zu technischen Schwierigkeiten bei Betrieb und Wartung führen würde. Nachdem Zuschlagskriterien während des laufenden Vergabeverfahrens nicht bzw nur in sehr engen Grenzen geändert werden dürfen,[5] ist diese Bestimmung wohl primär dahingehend auszulegen, dass Auftraggeber bereits ex ante (vor Festlegung der Zuschlagskriterien) prüfen müssen, ob eine der beiden Voraussetzungen vorliegt – eine in der Praxis mit Sicherheit nicht immer einfach durchzuführende Übung. Fazit: Vergaberecht bleibt somit eine nachhaltigkeitsrechtliche Spezialmaterie mit zunehmenden „grünen“ Aufgabenfeldern.

 


[1] Vgl Pallitsch/Reisinger/Ullreich, Der European Green Deal – Ein gewaltiger Sprung für Europa, NR 2021, 117.

[2] Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Rahmens für Maßnahmen zur Stärkung des europäischen Ökosystems der Fertigung von Netto-Null-Technologieprodukten (Netto-Null-Industrie-Verordnung), 16. 3. 2023, COM(2023) 161 final.

[3] Vgl hierzu insbesondere ErwGr 25 und Kapitel IV NNIV-Entwurf.

[4] Insbesondere der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG, ABl 2014 L 94, 65; Richtlinie 2014/25/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Vergabe von Aufträgen durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/17/EG, ABl 2014 L 94, 243 und Richtlinie 2014/23/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Konzessionsvergabe, ABl 2014 L 94, 1.

[5] Vgl Beschluss 94/800/EG des Rates vom 22. Dezember 1994 über den Abschluss der Übereinkünfte im Rahmen der multilateralen Verhandlungen der Uruguay-Runde (1986-1994) im Namen der Europäischen Gemeinschaft in Bezug auf die in ihre Zuständigkeiten fallenden Bereiche, ABl 1994 L 336, 1, https://www.wto.org/english/docs_e/legal_e/rev-gpr-94_01_e.pdf (13. 5. 2023).

[6] Vgl insbesondere ErwGr 31 ff NNIV-Entwurf.

[7] Vgl anstatt vieler EuGH 4. 12. 2003, C-448/01, EVN Wienstrom, ECLI:EU:C:2003:651; EuGH 20. 12. 2017, C-677/15 P, EUIPO/European Dynamics, ECLI:EU:C:2017:998.

 

PA Ing. Mag. Stefan Reisinger
Finanzprokuratur

LPA Dr. Stefan M Ullreich, M.A. (KCL)
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