Haftung des Rechtsanwalts für Verbandsgeldbuße bei unterlassener Belehrung über tätige Reue und Kronzeugenregelung
- Originalsprache: Deutsch
- JBLBand 146
- Rechtsprechung, 6388 Wörter
- Seiten 640 -647
- https://doi.org/10.33196/jbl202410064001
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Wird einem Rechtsanwalt vorgeworfen, einen Verband nicht über den Strafaufhebungsgrund der tätigen Reue (§ 167 StGB) oder ein mögliches Vorgehen nach § 209a StPO (Kronzeugenregelung) belehrt zu haben, so stehen der Strafanspruch des Staates und der Zweck der Verbandsgeldbuße einem auf deren Ersatz gerichteten Schadenersatzanspruch nicht entgegen.
Freilich setzt ein Anspruch den Nachweis voraus, dass die Verbandsgeldbuße mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht verhängt worden wäre, weil die Klägerin bei richtiger (vollständiger) Beratung durch die Beklagte die Möglichkeit einer tätigen Reue oder des § 209a StPO ergriffen und auch die Voraussetzungen dafür erfüllt hätte.
Die dreijährige Verjährungsfrist des § 1489 ABGB beginnt mit Kenntnis von Schaden und Schädiger. Bei einer juristischen Person ist für die Frage des Kennens oder Kennenmüssens nicht allein der Wissensstand der organschaftlichen Vertreter maßgebend. Es genügt das Wissen anderer Vertreter, etwa von Prokuristen, Handlungsbevollmächtigten oder Rechtsvertretern, soweit es sich auf das im konkreten Fall übertragene Aufgabengebiet bezieht und die betroffene Person mit der Sache tatsächlich befasst war, ebenso das Wissen solcher Personen, die mit der Entgegennahme, Anzeige oder Ermittlung rechtserheblicher Tatsachen betraut waren (Wissensvertreter ieS).
Hat der Vertreter jedoch selbst den Schaden zu verantworten, so ist sein Wissen dem geschädigten Vertretenen nicht zuzurechnen, und zwar unabhängig davon, ob der Anspruch gegen einen Dritten oder den Geschädigten selbst gerichtet ist. Sein Wissen kann daher den Lauf der Verjährungsfrist nicht in Gang setzen; es kommt in diesem Fall vielmehr auf den Zeitpunkt der Kenntniserlangung durch andere Organmitglieder oder Wissensvertreter an. Die Wissenszurechnung basiert nämlich auf Verkehrsschutzüberlegungen und wird in Fällen der Interessenkollision in der Person des vermittelnden Vertreters unterbrochen (hier: keine Zurechnung des Wissens von Vorstand und Prokurist wegen deren Involvierung in strafrechtswidrige Handlungen). Dass der Gesellschaft das Wissen des Vorstands im Verfahren nach dem VbVG zugerechnet wird, ändert daran nichts.
Die Frage, ob das schädigende Handeln tatsächlich zu einer strafgerichtlichen Verfolgung oder zivilrechtlichen Inanspruchnahme des Vertreters führt, ist für eine (Durchbrechung der) Wissenszurechnung und das Vorliegen eines Interessenkonflikts nicht ausschlaggebend. Eine Interessenkollision ist dann anzunehmen, wenn der Vertreter in der konkreten Situation eigene Nachteile (etwa den Eintritt einer Ersatzpflicht) zu befürchten hat, sodass eine ordnungsgemäße Vertretung der Gesellschaft (die Geltendmachung von Ansprüchen oder die Weiterleitung rechtlich relevanten Wissens) von ihm nicht erwartet werden kann.
- OGH, 08.04.2024, 1 Ob 200/23b
- OLG Wien, 30.10.2023, 2 R 149/23f
- HG Wien, 17.07.2023, 40 Cg 19/22b
- JBL 2024, 640
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