Vier ältere Frauen und der Verein KlimaSeniorinnen zogen vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), weil die Schweiz nicht genug gegen die Auswirkungen des Klimawandels unternehme. Am 9. April 2024 hat der EGMR entschieden. Das Urteil sorgt für rege Debatten und neben großer Begeisterung auch für Protest. Dieser Beitrag fragt danach, ob der Gerichtshof in seiner Entscheidung ein neues Grundrecht auf Klimaschutz erfindet, was es mit der Neujustierung der Zulässigkeitshürden auf sich hat und ob der Vorwurf der richterlichen Selbstermächtigung eine Berechtigung hat. Der EGMR schafft eine neue Klagebefugnis für Klimaschutz-Vereinigungen und folgt damit einem Trend zu kollektiv vermitteltem Rechtsschutz, der schon vor einigen Jahren vom Unionsgesetzgeber und zahlreichen nationalen Gesetzgebern losgetreten wurde.
- ISSN Online: 2309-7477
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Inhalt der Ausgabe
Am 1.1.2024 ist das Abstammungsrechts-Anpassungsgesetz 2023 (AbAG 2023) in Kraft getreten, mit dem wesentliche Bestimmungen des Abstammungsrechts geändert wurden. Ziel war es, die jüngere Rsp des VfGH im Abstammungsrecht umzusetzen und insbesondere für die Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren bei der Begründung eines Abstammungsverhältnisses zu sorgen. Folgender Beitrag soll einen Überblick und eine rechtliche Auseinandersetzung mit den Neuerungen des Abstammungsrechts geben.
Der Onlinekommentar wagt Neues. Der Onlinekommentar ist die erste gemeinnützige Open Access Plattform für juristische Kommentare in der Schweiz. Als frei zugängliche Kommentarplattform fördert er den Wissensaustausch unter Juristinnen und Juristen. Darüber hinaus baut er bestehende Barrieren zu juristischem Wissen ab. Er ermöglicht erstmals einen einfachen, bequemen und niederschwelligen Zugang für jedermann zu qualitativ hochwertigen und geprüften Rechtskommentaren.
S. 159 - 165, merk.würdig
Migrationsrecht als Motor einer neuen europäischen politischen Gemeinschaft
Der Beitrag argumentiert, dass die gegenwärtige Debatte über Migration unter einem Mangel an positiven Zukunftsvisionen für eine Einwanderungsgesellschaft leidet. Die Diskussion über eine solche Einwanderungsgesellschaft der Zukunft bietet im europäischen Kontext zudem die Chance, das Verfassungsrecht der Union stärker zu konkretisieren und die europäische Gesellschaft als politische Gemeinschaft zu konstituieren. Dafür bedarf es allerdings eines interaktiven und partizipativen Integrationsverständnisses, das auf Wechselseitigkeit beruht und auf den Werten des Art 2 EUV aufbaut.
Die nationale Umsetzung der Work-Life-Balance Richtlinie im Herbst 2023 brachte diverse rechtliche Neuerungen in Bezug auf die bessere Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben. Ziel der Änderungen im Gleichbehandlungsgesetz und im Bundes-Gleichbehandlungsgesetz ist der Schutz von Arbeitnehmer:innen vor Diskriminierungen im Zusammenhang mit der Beantragung und Inanspruchnahme von Betreuungs- und Pflegeaufgaben. Zur Umsetzung der Richtlinie wurden unterschiedliche Ansätze gewählt, denen sich dieser Beitrag widmet. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass die bevorstehende Umsetzung weiterer EU-Richtlinien zusätzliche Fragestellungen im Hinblick auf das nationale Gleichbehandlungsrecht und seine Institutionen aufwerfen wird.
Der Beitrag untersucht die verfassungsrechtlichen Vorgaben für das Rechtsschutzsystem in der Schule. Einfachgesetzlich schränkt das Schulunterrichtsgesetz den Kreis der anfechtbaren Entscheidungen ein. Während diese Einschränkung mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Verwaltungsgerichtsbarkeit und dem Rechtsstaatsprinzip im Einklang steht, gebietet die grundrechtliche Sicht eine partielle Erweiterung des Rechtsschutzes. Die Betrachtung als Rechtsverhältnis verdeutlicht die Fülle an rechtsschutzlosen hoheitlichen Handlungen in der Schule. Rechtspolitisch muss das kein Missstand sein. Vielmehr empfiehlt sich eine Beschränkung des Rechtsschutzes auf wesentliche Entscheidungen bei hoher Prüfdichte anstatt viele Entscheidungen nur oberflächlich zu prüfen.
Der Fall Signa geht als bislang größte Insolvenz der zweiten Republik in die Geschichte ein. Dieser Beitrag zeichnet Erfolg und Zusammenbruch des Konglomerats nach und offenbart dadurch eine Intransparenzstrategie, die systematischer Bestandteil des Geschäftsmodells war. Ohnehin geringe Transparenzpflichten wurden teilweise gezielt unterlaufen. Um trotz der Intransparenz für Investoren attraktiv zu sein, wurden diesen fallweise Verkaufsoptionen eingeräumt. Die Geschädigten der Signa-Pleite sind – wie bei allen großen Insolvenzen – nicht nur Investor:innen und Gläubiger:innen, sondern auch die Allgemeinheit. Deshalb diskutiert dieser Beitrag Regulierungs- und Durchsetzungsdefizite und Lösungswege, die Fälle wie Signa in dieser Größenordnung zumindest unwahrscheinlicher machen könnten.
Seit dem Großangriff der Hamas auf Israel haben antisemitische Inhalte vor allem in den sozialen Medien zugenommen. Der vorliegende Artikel untersucht aus einer medienethischen Perspektive, wie Kritik an der israelischen Regierung legitim geäußert wird und wann diese ins Antisemitische kippt. Als empirische Grundlage dienen 53 Entscheidungen der Presseräte im deutschsprachigen Raum zwischen 1999 und 2022, welche die Begriffe „Antisemitismus“ oder „Israel“ enthalten. Die Dokumente werden mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring induktiv ausgewertet, daraus ergeben sich drei Kategorien: Diskriminierung von Jüdinnen und Juden; „Israelkritik“; Antisemitismusvorwürfe. Die Analyse zeigt, welche Formulierungen über jüdische Menschen oder den Staat Israel für die Presseräte noch von der Meinungsfreiheit gedeckt sind und ab wann diese gegen die journalistische Ethik verstoßen.
Es lässt sich in der Asylrechtspraxis eine gewisse Zurückhaltung beobachten, Frauen als solche als bestimmte soziale Gruppe (bsG) im Sinne der GFK zu betrachten. Vielfach wird vertreten, dass für die Gruppendefinition zusätzlich zum Geschlecht noch weitere Charakteristika herangezogen werden müssten. Der vorliegende Beitrag skizziert Kontroversen rund um enge und weite bsG-Definitionen iZm Fällen geschlechtsbezogener Verfolgung von Frauen. Er arbeitet zunächst heraus, worin unter Umständen das Problem einer sehr engen Gruppendefinition liegen kann – insbesondere, wenn dem Konzept der bsG kein strukturelles Verständnis zugrunde gelegt wird. Danach wendet sich der Text der jüngsten EuGH-Rsp zu, mit der klargestellt wird, dass Frauen als solche eine bsG darstellen können. Abschließend unterzieht der Beitrag die Rsp einer Würdigung aus intersektionaler Perspektive.
Südafrika hat vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) ein Verfahren gegen Israel mit der Begründung eingeleitet, dass die israelische Militäroperation in Gaza gegen die Völkermordkonvention verstoße und öffentliche Äußerungen als Aufruf zum Völkermord zu werten seien. Vor dem Hintergrund der Klage und der Beschlüsse des IGH zu vorläufigen Maßnahmen erläutert der Beitrag die prozessrechtlichen Fragen der Zuständigkeit und Zulässigkeit sowie die materiell-rechtlichen Fragen, die aus der Völkermordkonvention erwachsen. Darüber hinaus erläutert der Beitrag die Entscheidungen zu den vorläufigen Maßnahmen und die Folgen und Reaktionen auf das Verfahren. Der Beitrag argumentiert, dass der IGH sich für zuständig und die Klage für zulässig erklären wird. Ob es zu einer Verurteilung Israels wegen Verstoßes gegen die Völkermordkonvention kommen wird, hängt vom weiteren Vorgehen in Gaza und gegen Aufrufe zum Völkermord ab.
S. 220 - 222, thema: Künstliche Intelligenz in den Rechtswissenschaften
Vorwort der Gastherausgeber:innen
S. 223 - 234, thema: Künstliche Intelligenz in den Rechtswissenschaften
Interdisziplinäre Forschungsprojekte: Integration rechtswissenschaftlicher Forschung
Interdisziplinäre Forschung ist vieldiskutiert, umstritten, aber oftmals auch explizit erwünscht. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Frage, wie rechtswissenschaftliche Forschung in interdisziplinäre Forschungsprojekte integrierbar ist. Nach einer theoretischen Grundlegung interdisziplinärer Forschung, in welcher verschiedene Formate der Zusammenarbeit (Wissenschaftlicher Beirat, Iteratives Prototyping und Embedded Law) dargelegt werden, stellt der Beitrag drei unterschiedliche interdisziplinäre Forschungsprojekte vor, in denen diese Formate eingesetzt wurden (Studie AMS-Algorithmus, Projekt KRISAN, Projekt RR-AI).
S. 235 - 243, thema: Künstliche Intelligenz in den Rechtswissenschaften
Objektive Maschinen?
Objektivität und Rechtssicherheit bei rechtlichen Entscheidungen sind Ideale, die von der Rechtsordnung zwar verfolgt, von menschlichen Entscheidungsträger:innen allerdings nicht immer gänzlich umgesetzt werden. Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) verspricht, diesem Umstand Abhilfe zu leisten. Der vorliegende Beitrag untersucht in diesem Zusammenhang, inwieweit KI tatsächlich zu einer Steigerung der Objektivität rechtlicher Entscheidungen führen könnte. Unter Objektivität im Recht kann dabei einerseits der „gaze from nowhere“, also die Vorurteilsfreiheit der Entscheidungsträger:innen, verstanden werden, andererseits die Herstellung von Objektivität durch rechtlichen Diskurs bzw „legal reasoning“. Die Analyse zeigt jedoch, dass das Versprechen der Objektivitätssteigerung durch KI nur teilweise erfüllt werden kann und insofern einer differenzierten Betrachtung bedarf.
S. 244 - 253, thema: Künstliche Intelligenz in den Rechtswissenschaften
Spotlight Erklärbare KI
Systeme künstlicher Intelligenz (KI) werden zunehmend in nahezu allen Lebensbereichen eingesetzt. Ihre Verwendung stellt die Gesellschaft dabei vor grundlegende Herausforderungen. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch die Erklärbarkeit dieser Systeme und ihrer Entscheidungsprozesse an Bedeutung. Dieser Beitrag diskutiert anhand dreier Anwendungsbeispiele verschiedene Erklärungsansätze für sogenannte White Box und Black Box Modelle. Die rechtlichen und technologischen Perspektiven stehen dabei im Dialog: Während die technologische Sicht Funktionsweisen und konkrete Einsatzmöglichkeiten von Erklärungen beschreibt, zeigt die rechtliche Perspektive grundlegende Anforderungen an ebendiese Erklärungen auf. Beide Perspektiven unterstreichen das Bestreben nach einer verständlichen Darstellung komplexer KI-Entscheidungen.
S. 254 - 264, thema: Künstliche Intelligenz in den Rechtswissenschaften
Ceci n’est pas Fairness
Fairness ist in aller Munde – Überlegungen rund um die Herausforderungen und Risiken von KI-Systemen rücken Fairnessgedanken ins Zentrum. Während man sich in den Computerwissenschaften mit der technischen Verankerung von Fairness in KI-Systemen befasst, erfährt der Fairnessbegriff auch im Recht eine Art Renaissance: Fairness wird nicht mehr nur vordergründig im Zusammenhang mit dem Recht auf ein faires Verfahren oder im Kontext eines fairen Wettbewerbs, sondern auch immer häufiger im Zusammenhang mit KI-Systemen verwendet. Aber welches Verständnis von Fairness unterliegt den unterschiedlichen Disziplinen? Und welche Rolle spielt Fairness in den jüngsten digitalrechtlichen Entwicklungen? Diese Fragen sollen im vorliegenden Beitrag bearbeitet werden, um dadurch zur Überwindung der divergierenden Begriffsverständnisse und zur Fortentwicklung von (interdisziplinären) Fairness-Überlegungen beizutragen. Anzumerken ist dabei, dass Fairness sowohl in den Computerwissenschaften als auch im Recht häufig im Kontext von Bias in KI-Systemen besprochen wird, worauf der Fokus dieses Beitrages liegt.
S. 265 - 274, thema: Künstliche Intelligenz in den Rechtswissenschaften
Menschenrechtsfolgenabschätzungen im Artificial Intelligence Act
Folgenabschätzungen haben sich als zentrales Instrument im „Werkzeugkasten“ risikobasierter Regulierung etabliert. Der vorliegende Beitrag analysiert die im Artificial Intelligence Act (AIA) in Art 29a normierte Menschenrechtsfolgenabschätzung. Nach einer Skizzierung des Konzepts der Folgenabschätzung unterzieht er den im Trilog abgeänderten Normtext einer kritischen Beurteilung im Vergleich zur Fassung des Europäischen Parlaments. Kernstück des Beitrags ist die Abschätzung der Folgen für besonders vulnerable Gruppen und eine mögliche Drittwirkung von Menschenrechten. Neben dieser rechtlichen Betrachtung widmet sich der Beitrag, ausgehend von in EU-Projekten gesammelten Erfahrungen, der Frage nach der praktischen Umsetzung einer solchen Folgenabschätzung. Er argumentiert für einen interdisziplinären Dialog zwischen den Disziplinen.
S. 275 - 284, thema: Künstliche Intelligenz in den Rechtswissenschaften
Einblicke in die interdisziplinäre Praxis: Wie wir die disziplinäre Hegemonie der Rechtswissenschaften überwinden
Interdisziplinäre Ansätze versprechen, die Probleme der Gegenwart in ihrer Komplexität erfassen zu können. Auch an den Universitäten fasst dieser Gedanke Fuß. Obwohl Interdisziplinarität als Trend-Begriff allgegenwärtig zu sein scheint, sind Strukturen und Machtgefüge der Wissenschaft weiterhin disziplinär geprägt. Interdisziplinäre Arbeit stellt eben diese Strukturen, welche den Ablauf von Studium, Lehre und Forschung bestimmen, in Frage. Die Rechtswissenschaften begegnen der Integration von interdisziplinären Ansätzen zu großen Teilen noch skeptisch. Bei der Interpretation des Rechts beanspruchen Jurist:innen zumeist eine gewisse Unabhängigkeit und Neutralität gegenüber gesellschaftlichen Fragen. Interdisziplinäre rechtswissenschaftliche Forschung hinterfragt dieses Selbstbild. Dieser Bericht möchte zeigen, dass interdisziplinäre rechtswissenschaftliche Forschung dennoch vielerorts bereits Praxis ist. In drei Interviews mit interdisziplinären Wissenschaftler:innen aus Norwegen, den Niederlanden und den USA erkunden wir, warum interdisziplinäres Arbeiten sinnvoll ist und wie es in der Praxis gelingen kann. Die Interviews zeigen, dass eine Anpassung und Öffnung der disziplinären Strukturen sowie ein Wandel in der akademischen Kultur notwendig sind, um Wissenschaftler:innen zu ermöglichen, interdisziplinär zu arbeiten.
In Anbetracht der jüngsten Verfassungsänderung in Frankreich, die das Recht auf Schwangerschaftsabbruch festschreibt, wirft dieser Beitrag einen summarischen Blick auf die „Bestandskraft“ der sog Fristenlösung in Österreich. Ausgehend davon soll der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit sich in der geltenden österreichischen Verfassung grundrechtliche Ansätze finden lassen, die die Freiheit zur Durchführung eines freiwilligen Schwangerschaftsabbruchs begründen könnten.