Der Beitrag identifiziert zunächst nach organisatorischen, verfahrensrechtlichen und inhaltlichen Kriterien jene Aufgaben des EuGH, aus denen seine verfassungsgerichtliche Funktion in Bezug auf das Recht sowie das institutionelle Gefüge der Europäischen Union abgeleitet werden kann. Darauf aufbauend erfolgt aus der Sicht eines Praktikers eine Darstellung der Anwendungsbedingungen und einiger aktueller Beispiele des verfassungsgerichtlichen Begründungsstils des EuGH. Dieser Stil wird dabei unter Berücksichtigung der besonderen Natur der Unionsrechtsordnung in einem rechtsvergleichenden Kontext mit jenem nationaler Verfassungsgerichte plastisch herausgearbeitet sowie in eine unionsrechtliche Perspektive gestellt.
- ISSN Online: 1613-7663
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Inhalt der Ausgabe
S. 385 - 388, Sonderbeiträge Zum Symposium – „Die verfassungsgerichtliche Begründung“
„Die verfassungsgerichtliche Begründung“ – Eine Tagungssynopse
S. 389 - 413, Sonderbeiträge Zum Symposium – „Die verfassungsgerichtliche Begründung“
Die verfassungsgerichtliche Begründung am Beispiel des Europäischen GerichtshofsThe Reasoning of Constitutional Courts – the Example of the European Court of Justice
S. 415 - 431, Sonderbeiträge Zum Symposium – „Die verfassungsgerichtliche Begründung“
Varianzen und globale Trends verfassungsgerichtlicher ArgumentationVariations and Global Trends in the Reasoning of Constitutional Courts
Im vorliegenden Beitrag werden Varianzen und globale Trends verfassungsgerichtlicher Argumentation auf der Grundlage des im Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht durchgeführten fünfjährigen Projekts Comparative Constitutional Reasoning dargestellt. Im Zuge dieses Projekts wurden teilweise traditionelle juristische (qualitative) Methoden, teilweise aber auch statistische (quantitative) Methoden angewandt.
S. 433 - 448, Sonderbeiträge Zum Symposium – „Die verfassungsgerichtliche Begründung“
Über Zusammenhänge zwischen Beratungskultur und Begründung gerichtlicher EntscheidungenOn the Relationship between Cultures of Deliberation and Rationales of Court Rulings
Zusammenhänge zwischen Beratungskultur und Begründung gerichtlicher Entscheidungen bestehen in beide Richtungen. Der Schwerpunkt des Beitrags liegt bei den Auswirkungen der Beratungskultur auf die Begründung höchstrichterlicher Entscheidungen. Die vor allem in der angelsächsischen Literatur anzutreffende These, dass gemeinschaftliche Entscheidungsproduktion und insbesondere eine verständigungsorientierte Beratung zu besonders knappen, minimalistischen und/oder unklaren Entscheidungen führe, ist definitiv unhaltbar. Zu erwartende und zumindest exemplarisch verifizierbare Konsequenzen sind demgegenüber ein diskursiverer Begründungsduktus, eine Tendenz zu abwägenden Gehalten und ein wenig individuell geprägter, nicht von Brillianzen und Extravaganzen gekennzeichneter Stil. Deutliche Auswirkungen verständigungsorientierter Beratung auf den Grad an richterlicher Kreativität sind nicht erkennbar. Hier wie in einigen anderen die Charakteristik gerichtlicher Entscheidungsbegründungen betreffenden Hinsichten sind andere Faktoren prägender als die Beratungskultur.
S. 449 - 470, Sonderbeiträge Zum Symposium – „Die verfassungsgerichtliche Begründung“
Einheitlichkeit und Abweichung: die Dialektik verfassungsgerichtlicher ArgumentationUniformity and Deviation: The Dialectic of Constitutional Courts’ Reasoning
Einheitlichkeit und Abweichung in der verfassungsgerichtlichen Judikatur spiegeln sich in den Entscheidungsgründen wider. Im diachronen Fall weicht ein Verfassungsgericht von bisheriger einheitlicher Judikatur ab, was in der Begründung offengelegt und erläutert werden sollte. Im Fall der synchronen Abweichung geht es darum, dass der Entscheidung ein oder mehrere Sondervoten beigefügt sind, aus denen – ob dissenting oder concurring opinion – eine andere Begründung als die der Mehrheitsentscheidung hervorgeht. Sofern strategischer Zweck der dia- oder synchronen Abweichung der „Wettbewerb um das bessere Argument“ und damit letztlich die Suche nach rechtlicher Wahrheit ist, dient sie verfassungsstaatlichen Zwecken, denen gleichwohl andere verfassungsstaatliche Zwecke entgegengehalten werden können, zwischen welchen abzuwägen ist. Der Beitrag untersucht die beiden Formen der Abweichung sowie die dahinterstehenden judikativen Strategien im Verfassungsvergleich und bewertet abschließend ihre Funktion für eine qualitätsvolle dialektische Begründungskultur.
S. 471 - 487, Sonderbeiträge Zum Symposium – „Die verfassungsgerichtliche Begründung“
Der Begründungsstil des österreichischen VerfassungsgerichtshofsThe Reasoning Style of the Austrian Constitutional Court
Dieser Beitrag widmet sich dem Begründungsstil des österreichischen Verfassungsgerichtshofes. Dabei wird zu Beginn festgestellt, dass in vergleichender Hinsicht die Entscheidung(sbegründung)en in der Regel kurz und auf das Wesentliche reduziert sind. Ein damit verbundener Blick in die Historie des österreichischen Verfassungsrechts zeigt eine frühere Handhabung des Verfassungsrechts als streng formales Recht – mit wichtigen Folgen für das Rollenverständnis des VfGH: Dieser wurde lange Zeit als „Schiedsrichter“ im Verfassungsrecht gesehen, was sich auch in einem judicial self-restraint in der Normenkontrolle sowie in der Kürze seiner Entscheidungsbegründungen materialisierte. Mit dem Verfassungsstatus der EMRK sowie dem EU-Beitritt Österreichs änderten sich daraufhin angesichts neuer Rahmenbedingungen auch die Begründungen des VfGH. Derartige Änderungen im Begründungsstil des VfGH werden durch die Verfassung selbst möglich gemacht, die dem „Grenzorgan“ durch nur wenige explizite und implizite Direktiven weite Spielräume für seine Begründungen offenlässt. In der Entscheidungspraxis zeigt sich ein nüchterner und pragmatischer Stil, der immer die Entwicklungsperspektive vor Augen hat. Obiter dicta sind eine Seltenheit, ebenso wie Fälle expliziter Abkehr von eigener Vorjudikatur. Letztere, wie etwa zur Sterbehilfe oder „Ehe für Alle“, wurden dafür umso mehr und heftiger diskutiert. Auch der Umgang des VfGH mit dem Schrifttum ist zurückhaltend. IdR finden nur wenige Quellen Eingang in die Enderledigung, was jedoch nicht heißt, dass diese keine Bedeutung für die Entscheidungsfindung haben. Dem Schrifttum kommt gesamthaft gesehen die Rolle des Vor- und Nachbereiters verfassungsgerichtlicher Entscheidungen zu. Im Hinblick auf andere ausländische Höchstgerichte zeigt sich, dass der VfGH diese nur sehr selten zitiert. Entscheidungen des VwGH und des OGH finden demgegenüber öfters Eingang in die Begründungen, dies überwiegend als Stabilisierung der eigenen Argumentation im Besonderen im Hinblick auf eine verfassungskonforme Auslegung. Rechtsprechung des EGMR und nunmehr auch des EuGH zitiert der VfGH dagegen oft, auch hier steht die Stabilisierungsfunktion im Vordergrund.
S. 489 - 508, Sonderbeiträge Zum Symposium – „Die verfassungsgerichtliche Begründung“
Der Begründungsstil des liechtensteinischen StaatsgerichtshofesThe Style of Reasoning of the Liechtenstein Constitutional Court
Sowohl die Rechtsprechung als auch der Begründungsstil des Staatsgerichtshofes haben sich in den bald 100 Jahren seines Bestehens stark gewandelt. Erst in den 1990er-Jahren vollzog der Staatsgerichtshof den Anschluss an eine moderne Grundrechtsdoktrin mit einem materiellen Grundrechtsverständnis, einer topisch-offenen Normauslegung sowie einem diskursiv-kommunikativen Selbstverständnis als Verfassungsgericht. Mit diesem Wandel änderte sich auch der Begründungsstil des Staatsgerichtshofes. Die Entscheidungsbegründungen wurden länger, die Sprache verständlicher und griffiger, die Struktur der Entscheidungen übersichtlicher. Die Sprache des Staatsgerichtshofs entspricht damit im Vergleich mit den anderen deutschsprachigen Verfassungsgerichten am ehesten derjenigen des Bundesgerichts. Der Staatsgerichtshof wurde zu einem selbstreflexiven Gericht, das seine eigene Rechtsprechung kritisch hinterfragt und sich bewusst ist, dass es sich die Anerkennung und Akzeptanz der anderen Verfassungsorgane und der Gesellschaft gerade auch mit gut begründeten Entscheidungen erarbeiten muss.
S. 509 - 529, Sonderbeiträge Zum Symposium – „Die verfassungsgerichtliche Begründung“
Über den Begründungsstil des Schweizerischen BundesgerichtsAbout the Swiss Federal Supreme Court’s Style of Reasoning
I. Das Schweizerische Bundesgericht ist nicht nur das oberste Gericht des Bundes, sondern seit gut 150 Jahren auch Verfassungsgericht, ausgestattet mit umfassenden Befugnissen gegenüber den Kantonen bis hin zur Möglichkeit der Aufhebung von Volksabstimmungen und kantonalen Gesetzen. Das Bundesgericht ist ein großes, vielfältiges und vielbeschäftigtes Gericht. Ein einheitlicher Begründungsstil gehört nicht zu seinen obersten Prioritäten.
II. Es gibt nur rudimentäre förmliche Vorgaben betreffend die Entscheidbegründung. Informell gilt, dass die Begründung möglichst „EGMR-fest“ sein sollte.
III. Erhöhte Erwartungen an die Urteilsbegründung bestehen vor allem bei den sog Leitentscheiden, die in die Amtliche Sammlung (BGE) Eingang finden; dies gilt erst recht, wenn das Bundesgericht sich in seinem Urteil verfassungsfortbildend betätigt (was immer wieder vorkommt) und es sich in Konkurrenz zum formellen Verfassungsgeber begibt. Trotz schwieriger institutioneller Rahmenbedingungen – insb „Maßgeblichkeit“ der Bundesgesetze für das Bundesgericht (Art 190 BV) – hat sich das Bundesgericht in Verfassungsfragen über die Jahre hin eine gewisse Auslegungsautorität erarbeitet. Ein zentraler Faktor dabei ist die Überzeugungskraft der bundesgerichtlichen Entscheidbegründungen.
IV. Die verfassungsgerichtliche Entscheidbegründung ist Teil eines komplexen Kommunikationsprozesses. Abgesehen von den Verfahrensparteien gehören zu den Adressaten eines höchstrichterlichen Urteils, je nach Fallkonstellation, auch das Justizsystem (untere Instanzen, EGMR), die Politik, die (Verfassungsrechts-)Wissenschaft und unter Umständen auch weitere Akteure – mit Folgen für die Anforderungen und die Erwartungen an die Entscheidbegründung (Art und Dichte der Argumentation, Einsatz von obiter dicta usw).
V. Ein verfassungsgerichtliches Urteil muss nicht zwingend gerecht sein (sondern vor allem juristisch korrekt), es soll jedoch funktionsgerecht und adressatengerecht begründet sein, vor allem bei Leitentscheiden.
S. 531 - 547, Sonderbeiträge Zum Symposium – „Die verfassungsgerichtliche Begründung“
Verfassungsgerichtliche Begründung, Rechtsstaat und DemokratieConstitutional Reasoning, Rule of Law and Democracy
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bestimmen in spezifischer Weise die Besonderheiten der verfassungsgerichtlichen Begründung; diese wiederum leistet einen Beitrag zu diesen Prinzipien des Bundesverfassungsrechts. Vor der gerichtlichen Tätigkeit liegt die Verfassung, der Maßstab verfassungsgerichtlicher Begründungen. Diese sind dadurch geprägt, dass das Verfassungsrecht eine große Bandbreite zwischen sehr konkreten Vorschriften, etwa im Staatsorganisationsrecht, und sehr allgemeinen Regeln, etwa im Grundrechtsbereich, aufweist. Innerhalb des Gerichts wirken auf die Begründung einerseits die Beratung und die Beratungskultur im größeren Kollegium, andererseits auch die Arbeitsökonomie. Verfassungsgerichtliche Begründungen sind die entscheidende Basis für die Außenkommunikation des Gerichts und Ausgangspunkt sowohl für die Vermittlung gegenüber der Zivilgesellschaft als auch für den Dialog mit der Wissenschaft und mit dem Gesetzgeber. Letztlich stärken die Wahrnehmung der Begründungen und die informierte, kritische Auseinandersetzung mit diesen die Legitimation des Verfassungsgerichts.
S. 549 - 580, Aufsatz
Recent Austrian Practice in the Field of European Union Law
Der dreizehnte Bericht der Abteilung für Europarecht des Völkerrechtsbüros im Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten, der unter inhaltlicher Leitung von Martin Meisel entstanden ist, befasst sich mit einigen wichtigen Entwicklungen des Europarechts während des Jahres 2023. Die behandelten Themen umfassen aktuelle Entwicklungen hinsichtlich des angestrebten Beitritts der EU zur EMRK (Meisel), offene Fragen infolge des Beitritts der EU zur Istanbul-Konvention (Backé), Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Ratifikation der ILO-Konvention Nr 190 (Reichard), die Modalitäten für die Festlegung von EU-Positionen in Bezug auf das WHO-Tabakrahmenübereinkommen (Meisel), die Frage der Gemischtheit rezenter Partnerschafts- und Assoziierungsabkommen (Meisel), das geplante Assoziierungsabkommen mit Andorra und San Marino (Köhler), rezente Entwicklungen in Bezug den Energiechartervertrag (Starowicz) und aktuelle Judikatur im Bereich des auswärtigen Handelns der EU (Breitler).