Maßnahmen der Schweiz gegen den Klimawandel unzureichend
- Originalsprache: Deutsch
- JBLBand 146
- Rechtsprechung, 1355 Wörter
- Seiten 511 -512
- https://doi.org/10.33196/jbl202408051102
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Für Konventionsfragen im Zusammenhang mit dem Klimawandel wird ein spezifischer Zugang entwickelt: Die wesentlichen Umstände unterscheiden sich erheblich von der Umweltrechtsprechung, und der Lastenverteilung zwischen den Generationen kommt besondere Bedeutung zu, da künftige Generationen voraussichtlich eine immer größere Last der Folgen der derzeitigen Versäumnisse bei der Bekämpfung des Klimawandels tragen werden, jedoch nicht an den relevanten Entscheidungsprozessen teilnehmen können. Zu berücksichtigen sind dabei die sich ständig weiterentwickelnden wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Bekämpfung des Klimawandels und dessen nachteiliger Auswirkungen sowie die wissenschaftliche, politische und rechtliche Anerkennung eines Zusammenhangs zwischen diesen nachteiligen Auswirkungen und dem Genuss der Menschenrechte.
Behauptete Verletzung von Art 2 und 8 EMRK
Die vom beschwerdeführenden Verein im Namen seiner Mitglieder erhobenen Beschwerden fallen in den Anwendungsbereich von Art 8 EMRK, der Verein verfügt über die erforderliche Beschwerdelegitimation (locus standi):
Vereinigungen können sich grundsätzlich nicht auf mit dem Klimawandel verbundene gesundheitliche Umstände oder Beeinträchtigungen berufen, die nur natürliche Personen treffen können. Die Besonderheit des Klimawandels als gemeinsame Sorge der Menschheit, die notwendige Lastenverteilung zwischen den Generationen und der Umstand, dass die kollektive Rechtsverfolgung das einzige Mittel sein könnte, denjenigen eine Stimme zu geben, die in Bezug auf die Repräsentation deutlich benachteiligt sind, sprechen dafür, einer Vereinigung die Beschwerdelegitimation zuzuerkennen, wenn diese Einzelpersonen vertritt, deren Rechte beeinträchtigt werden oder werden könnten.
Entsprechend den anlässlich der Beschwerde entwickelten Kriterien wurde der beschwerdeführende Verein erstens rechtmäßig gegründet, verfolgt zweitens den Zweck der Verteidigung der Menschenrechte seiner Mitglieder und anderer betroffener Personen angesichts der Bedrohungen, die sich aus dem Klimawandel im beklagten Staat ergeben, und ist drittens tatsächlich geeignet und repräsentativ, im Namen derjenigen Personen zu handeln, die behaupten, nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels auf ihr Leben, ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden, wie sie durch die Konvention geschützt sind, ausgesetzt zu sein. Zudem liegt die Gewährung der Beschwerdelegitimation im Interesse einer ordnungsgemäßen Rechtspflege.
Die individuellen (Zweit- bis Fünft-)Beschwerdeführerinnen erfüllen nicht die Voraussetzungen der Opfereigenschaft:
Zur Geltendmachung der Opfereigenschaft gemäß Art 34 EMRK im Zusammenhang mit Schäden oder Schadensrisiken infolge behaupteter Versäumnisse des Staates bei der Bekämpfung des Klimawandels hat ein Beschwerdeführer nachzuweisen, persönlich und direkt von den beanstandeten Versäumnissen betroffen zu sein. Vorausgesetzt wird, dass der Beschwerdeführer den nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels in hoher Intensität ausgesetzt ist und dass ein dringendes Bedürfnis nach individuellem Schutz des Beschwerdeführers besteht, da angemessene Maßnahmen zur Schadensminderung fehlen oder unzureichend sind. Im Hinblick auf den Ausschluss der actio popularis unterliegt die Erfüllung dieser Kriterien einer besonders hohen Hürde und erfordert eine sorgfältige Prüfung.
Im konkreten Fall ist nicht ersichtlich, dass die individuellen Beschwerdeführerinnen den nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels in einer Intensität ausgesetzt sind oder zu einem relevanten Zeitpunkt in der Zukunft ausgesetzt sein könnten, die die Gewährleistung ihres individuellen Schutzes dringend erforderlich macht.
Aus den zu Art 8 EMRK festgestellten Gründen sind die Beschwerden der individuellen Beschwerdeführerinnen auch nach Art 2 EMRK unvereinbar ratione personae. Die Anwendbarkeit des Art 2 EMRK setzt eine tatsächliche und unmittelbare Lebensgefahr voraus, also eine ernsthafte, echte und hinreichend feststellbare Lebensgefahr, die eine physische und zeitliche Nähe der Bedrohung aufweist, etwa die ernsthafte Gefahr einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung aufgrund des Klimawandels; diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.
In der Sache stellt der EGMR eine Verletzung von Art 8 EMRK fest:
Aus Art 8 EMRK folgt ein Recht Einzelner auf wirksamen Schutz durch den Staat vor schwerwiegenden nachteiligen, aus dem Klimawandel resultierenden Auswirkungen auf Leben, Gesundheit, Wohlbefinden und Lebensqualität.
Die Art und Schwere der Bedrohung sowie der allgemeine Konsens, den Klimaschutz durch Reduktionsziele betreffend Treibhausgase (THG) sicherzustellen, schränken den staatlichen Ermessensspielraum hinsichtlich des Bekenntnisses des Staates zur Notwendigkeit der Bekämpfung des Klimawandels und der Festlegung der diesbezüglichen Ziele ein. Bei der Wahl der Mittel, um diese Ziele zu erreichen, hat der Staat einen weiten Ermessensspielraum.
Der Staat hat in erster Linie Vorschriften und Maßnahmen zu erlassen und wirksam anzuwenden, die geeignet sind, die bestehenden und potenziell irreversiblen künftigen Auswirkungen des Klimawandels einzudämmen. Diese Verpflichtung ergibt sich aus dem Kausalzusammenhang zwischen dem Klimawandel und der Inanspruchnahme der Konventionsrechte, sowie aus der Tatsache, dass die Bestimmungen der Konvention so ausgelegt und angewandt werden müssen, dass die verbürgten Rechte praktisch und wirksam sind.
Art 8 EMRK erfordert in diesem Zusammenhang, dass jeder Staat Maßnahmen zur schrittweisen Reduktion der THG-Emissionen ergreift, mit dem Ziel, Netto-THG-Neutralität grundsätzlich binnen der nächsten drei Jahrzehnte zu erreichen. Damit diese Maßnahmen effektiv sind, haben die Behörden rechtzeitig sowie auf geeignete und kohärente Weise zu handeln. Auch müssen unverzüglich Maßnahmen ergriffen werden, die zur Netto-THG-Neutralität führen, damit die tatsächliche Durchführbarkeit gewährleistet und eine unverhältnismäßige Belastung künftiger Generationen vermieden wird.
Weiters erfordert ein wirksamer Schutz, dass die Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels durch Anpassungsmaßnahmen ergänzt werden, die darauf abzielen, die schwerwiegendsten oder unmittelbarsten Folgen des Klimawandels abzumildern.
Schließlich sind beim Entscheidungsprozess des Staates folgende Verfahrensgarantien zu gewährleisten: Die den Behörden zur Verfügung stehenden Informationen, die für die Ausarbeitung und Umsetzung der einschlägigen Regelungen und Maßnahmen von Bedeutung sind, müssen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Zudem hat es Verfahren zu geben, in deren Rahmen die Standpunkte der Öffentlichkeit im Entscheidungsfindungsprozess berücksichtigt werden können.
Im Ergebnis gibt es in der Schweiz einige kritische Lücken bei der Schaffung des entsprechenden Rechtsrahmens; darunter das Versäumnis, das nationale CO2-Budget zu quantifizieren. Die bloße legislative Verpflichtung, die konkreten Maßnahmen „rechtzeitig“ zu verabschieden, ist unzureichend. Zudem wurden bereits zuvor die Ziele zur Reduktion der THG-Emissionen verfehlt. Indem die Schweiz es verabsäumte, bei der Entwicklung und Umsetzung des rechtlichen und administrativen Rahmens rechtzeitig sowie auf geeignete und kohärente Weise zu handeln, überschritt sie ihren Ermessensspielraum und verletzte Art 8 EMRK.
Behauptete Verletzung von Art 6 und 13 EMRK
Das Vorbringen des Vereins betraf einerseits Gesetzgebungsfragen bzw politische Entscheidungen, die nicht in den Anwendungsbereich von Art 6 Abs 1 EMRK fallen, andererseits aber auch – und insoweit findet Art 6 Abs 1 EMRK auf die Beschwerde Anwendung – behauptete Versäumnisse bei der wirksamen Umsetzung der im geltenden innerstaatlichen Recht vorgesehenen Klimaschutzmaßnahmen, die den Schutz der durch den beschwerdeführenden Verein verteidigten Rechte beeinträchtigten. Im Kontext des Klimawandels sind im Lichte der Rolle von Vereinigungen deren rechtliche Maßnahmen als Mittel zu sehen, mit dem die Konventionsrechte der vom Klimawandel Betroffenen, einschließlich derjenigen, die in Bezug auf ihre Vertretung deutlich benachteiligt sind, verteidigt werden können. Im Hinblick auf das Bestreben des Vereins, für die civil rights seiner Mitglieder angesichts der nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels einzutreten, ist die Voraussetzung eines echten und ernsthaften Streits über ein civil right (Recht auf Leben nach Art 10 chBV) erfüllt und der Ausgang des Verfahrens war – dieses Erfordernis in einem weiteren Sinn verstehend – für die in Streit stehenden Rechte unmittelbar entscheidend. Dem Verein kommt daher Opfereigenschaft zu. Hingegen ist die Beschwerde der individuellen Beschwerdeführerinnen, für deren civil rights der Verfahrensausgang nicht unmittelbar entscheidend war, rationae materiae unvereinbar mit den Konventionsbestimmungen.
Die Zurückweisung des nationalen Rechtsbehelfs des beschwerdeführenden Vereins ohne inhaltliche Prüfung beschränkt das Recht auf Zugang zu einem Gericht. Im Hinblick auf das von den innerstaatlichen Gerichten mit der erfolgten Beschränkung verfolgte Ziel, zwischen Fragen des individuellen Schutzes und Beschwerden im allgemeinen öffentlichen Interessen zu unterschieden, kann die Beschwerde, soweit sie die Versäumnisse bei der Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen betrifft, nicht von vornherein als actio popularis angesehen werden. Die Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte, dass noch Zeit verbleibe, um das Erreichen der kritischen Grenze der globalen Erwärmung zu verhindern, sind nicht überzeugend. Die – nicht ausreichend untersuchten – wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Klimawandel deuten auf einen dringenden Bedarf hin, den Schutz der Menschenrechte im Hinblick auf die behauptetermaßen unzureichenden Maßnahmen der Behörden zur Bekämpfung des Klimawandels sicherzustellen.
Die innerstaatlichen Gerichte befassten sich weder mit der Frage der Legitimation noch sonst mit dem Rechtsmittel des beschwerdeführenden Vereins. Da diesem keine weiteren relevanten Garantien zur Verfügung standen, wurde – soweit Art 6 Abs 1 EMRK auf das Beschwerdevorbringen anwendbar ist – sein Recht auf Zugang zu einem Gericht so weit eingeschränkt, dass der Wesensgehalt dieses Rechts beeinträchtigt wurde. In diesem Zusammenhang ist die Schlüsselrolle zu betonen, die innerstaatliche Gerichte in Rechtsstreitigkeiten betreffend den Klimawandel gespielt haben und spielen werden.
Da Art 6 EMRK im Verhältnis zu Art 13 EMRK eine lex specialis ist, ist es nicht erforderlich, die Beschwerde nach Art 13 EMRK gesondert zu prüfen.
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- EGMR (GK), 09.04.2024, 53.600/20, Verein KlimaSeniorinnen Schweiz ua/Schweiz
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