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Rechtsprechungsübersicht EGMR – Kurzinfo

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Der Bf, ehemaliger Innenminister, wurde im Zuge eines Wiederaufnahmeverfahrens 2016 der Geldwäsche für schuldig befunden. Seine durch das zuvor durchgeführte Strafverfahren verhängte Haftstrafe wurde im Februar 2015 aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands ausgesetzt. Im September 2016 tauchten Aufnahmen auf, die ihn beim Basketballspielen zeigten. Aufgrund der großen Medienaufmerksamkeit gab der damalige Justizminister Goran Klemenčič am 27. September 2016 (dem Tag, an dem die Basketball-Aufnahmen auftauchten) ein Interview mit POP TV (einem privatrechtlichen Fernsehsender). Der damalige Justizminister traf unter anderem folgende Aussage: „Wenn dieser Fall [Bavčar] verjährt, möchte ich hier sagen: [...] Hier werde ich alles tun, um Köpfe rollen zu lassen. [...] [Ich werde dies] nicht tun, weil jemand verurteilt oder freigesprochen werden soll [...], sondern weil die Verjährung von Gerichtsverfahren, und davon haben wir zu viele, das schlimmstmögliche Ergebnis ist. Ich glaube nicht, dass es dazu kommen wird, aber wenn doch [...] denke ich, dass eine Menge Leute sich [dafür] verantworten müssen, und ich werde der Erste sein, der Antworten verlangt [...].“ Der Bf behauptete einerseits, Geldwäsche könne nicht das Ergebnis eines indirekten Vorsatzes sein und er sei somit in seinen Rechten nach Art 7 EMRK verletzt, und andererseits, dass das Fernsehinterview des damaligen Justizministers Druck auf die Richter des Obersten Gerichts Sloweniens ausgeübt hätte und dies gegen die Unschuldsvermutung spreche.

Der EGMR stellte hinsichtlich der Unschuldsvermutung fest, dass die Äußerungen des Justizministers eine Schuld des Bf implizierten und eine Reaktion bei den Gerichten und der Regierung auslösten. Die kumulative Wirkung dieser Äußerungen im Fernsehinterview war geeignet, das Oberste Gericht in seinem Urteil zu beeinflussen. Der Bf wurde daher in seinen Rechten nach Art 6 Abs 2 EMRK verletzt. Der Gerichtshof führte hinsichtlich Art 7 EMRK (Bestimmtheitsgebot im Strafrecht) aus, dass das Gericht bei der Wiederaufnahme des Verfahrens den Bf wegen zweier Handlungen der Geldwäsche verurteilt hatte. Er war nach der damals geltenden Rechtslage verurteilt worden, obwohl sich die Auslegung des Begriffs „Vorsatz“ zwischen der Begehung des Verbrechens und dem endgültigen Urteil geändert hatte. Der EGMR stellte fest, dass diese Auslegung das Ergebnis der Entwicklung einer erkennbaren Rechtsprechungslinie ist, dem Straftatbestand entsprach, vorhersehbar und mit der Konvention vereinbar war. Der Bf wurde somit nicht in seinen Rechten nach Art 7 EMRK verletzt.

Der Bf, ein ehemaliger Lehrer (türkischer Staatsbürger), wurde wegen der Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Organisation, konkret der FETÖ/PDY (sog Gülen-Bewegung), zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und drei Monaten verurteilt. Seine Verurteilung wurde im Wesentlichen damit begründet, dass er den Nachrichtendienst ByLock nutzte. Die innerstaatlichen Gerichte gingen davon aus, dass dieser ausschließlich für die Mitglieder der Organisation FETÖ/PDY entwickelt wurde. Der EGMR stellte fest, dass eine bloße Nutzung des Nachrichtendienstes nicht in Einklang mit den innerstaatlichen Regeln über die Verurteilung wegen der Mitgliedschaft in einer solchen Vereinigung steht. Die Definition des Straftatbestands der Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Vereinigung nach dem innerstaatlichen Recht setze besondere Kenntnisse und vorsätzliches Handeln voraus. Insb müsse nachgewiesen werden, dass der Bf aufgrund der Kontinuität, der Vielzahl und der Intensität seiner Aktivitäten eine Verbindung zu der Organisation hatte und er wusste, dass es sich um eine Organisation handelt, die Verbrechen beging oder plante zu begehen, und spezifischer Vorsatz zur Verwirklichung dieses Ziels beim Bf vorlag. Eine Verurteilung erfolge nur dann, wenn nachgewiesen wird, dass der Bf wissentlich und willentlich innerhalb der hierarchischen Struktur der Organisation gehandelt und sich deren Ziele zu eigen gemacht hat. Der EGMR erkannte, dass ByLock kein gewöhnlicher kommerzieller Messaging-Dienst ist und dass dessen Nutzung auf den ersten Blick eine Verbindung zur Gülen-Bewegung nahelegen könnte. Für eine Verurteilung aufgrund der Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Vereinigung sei jedoch nicht die bloße Verbindung mit einem angeblich kriminellen Netzwerk ausreichend, sondern es bedürfe einer tatsächlichen Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Vereinigung. Der Bf wurde somit in seinen Rechten nach Art 7 EMRK (nullum crimen, nulla poena sine lege) verletzt. Zudem stellte der EGMR Verfahrensmängel fest, insb hinsichtlich des Zugangs des Bf zu den ByLock-Beweisen und seiner Fähigkeit, diese wirksam anzufechten. Dies stellt einen Verstoß gegen sein Recht auf ein faires Verfahren nach Art 6 EMRK dar. Derzeit liegen dem Gerichtshof etwa 8.500 Beschwerden vor, die ähnliche Art 7 und/oder 6 EMRK-Verfahren betreffen. Angesichts der Tatsache, dass die Behörden rund 100.000 ByLock-Benutzer identifizierten, seien noch viele weitere Beschwerden zu erwarten. Der Gerichtshof stellte gem Art 46 EMRK fest, dass die Türkei allgemeine Maßnahmen ergreifen muss, um diese systemischen Probleme zu beheben, insb im Hinblick auf die Vorgehensweise der türkischen Justiz bei ByLock-Beweisen. Der Gerichtshof stellte außerdem fest, dass eine Verletzung von Art 11 EMRK vorliegt, da der Anwendungsbereich des Straftatbestands in unvorhersehbarer Weise ausgeweitet wurde, als sich das Gericht zur Bekräftigung der Verurteilung des Bf auf seine Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft und einem Verein – die als der FETÖ/PDY nahestehend angesehen werden – gestützt hat, die beide zum maßgeblichen Zeitpunkt rechtmäßig tätig waren.

Der Bf wurde wegen des Verstoßes gegen das Waffen- und Sprengstoffgesetz angeklagt und in Untersuchungshaft genommen. Wegen seines aggressiven und bedrohlichen Verhaltens wurde der Bf wiederholt in einer Beobachtungs- und Sicherheitszelle untergebracht. Der Bf wurde in einer solchen Beobachtungszelle von zwei Gefängniswärtern mit Pfefferspray besprüht. Die Gefängnisleitung behauptete, das Gefängnispersonal habe Pfefferspray verwenden müssen, weil der Bf unruhig und aggressiv gewesen sei, seine Matratze in Stücke zerrissen habe, auf den Boden uriniert und einen Gefängniswärter angegriffen habe. Der Bf brachte vor, dass er passiv gewesen sei, als die Gefängniswärter die Zelle betraten, und dass er, nachdem er besprüht worden war, das Bewusstsein verloren habe und in eine Sicherheitszelle geschleppt und dort an ein Bett gefesselt worden sei. Der EGMR stellte mehrere Mängel bei der Untersuchung des Vorgangs fest. Allen voran sei keine Beurteilung erfolgt, ob die Anwendung von Gewalt durch den Einsatz von Pfefferspray gegen den Bf unbedingt notwendig war, warum die Gefängniswärter in die Zelle gingen und ob das Betreten unbedingt erforderlich war. Bei der Untersuchung sei nicht darauf geachtet worden, ob eine Risikobewertung bzw eine spezifische Vorbereitung vor dem Betreten der Zelle stattgefunden hat. Eine solche Vorbereitung hätte Aufschluss darüber geben können, ob der Bf ohne den Einsatz von Pfefferspray unter Kontrolle hätte gebracht werden können. Insb führte der EGMR aus, dass die Durchführungsverordnung Nr 296 vom 28. März 2017 über die Anwendung von Gewalt gegen Insassen in Gefängnissen ausdrücklich verlangt, dass ein Gefangener gewarnt werden muss, bevor Pfefferspray eingesetzt wird, und dass ihm die Möglichkeit gegeben werden muss, den Anordnungen der Gefängniswärter Folge zu leisten. Die Verordnung legt zudem fest, dass jeglicher Einsatz von Pfefferspray in einem Register zu erfassen ist, dass Hilfe zur Linderung der dadurch verursachten Symptome zu leisten ist und dass der Gefangene über die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen, zu informieren ist. Es sei nicht nachvollziehbar gewesen, ob die Untersuchung ergeben hatte, dass dem Bf Hilfe zur Linderung seiner Symptome angeboten wurde und ob der Vorfall in einem speziellen Register erfasst und dem Gefängnis- und Bewährungsdienst mitgeteilt wurde. Der EGMR stellte fest, dass nicht sorgfältig geprüft wurde, ob die Verfahrensgarantien für den Einsatz von Pfefferspray eingehalten wurden. Der Bf wurde daher in seinen Rechten nach Art 3 EMRK verletzt.

  • Art 7 EMRK
  • Art 6 Abs 2 EMRK
  • Art 6 Abs 1 EMRK
  • Art 3 EMRK
  • EGMR, 03.10.2023, Nr 27753/19, El-Asmar ./. Dänemark
  • Strafrecht- und Strafprozessrecht
  • JST-Slg 2024/1
  • EGMR, 26.09.2023, Nr 15669/20, Yüksel Yalçinkaya ./. Türkei
  • EGMR, 07.09.2023, Nr 17053/20, Bavčar ./. Slowenien
  • Art 11 EMRK

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