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Gewaltschutz: Gutes Gesetz, verbesserungswürdige Praxis

Im Interview: Astrid Deixler-Hübner und Mariella Mayrhofer

September 2023

Mit dem 2019 reformierten Gewaltschutzgesetz hat Österreich im Europavergleich ein sehr gutes rechtliches Instrument gegen Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt vorgelegt. Um der häufigen Gewalt in Beziehungen und der international hohen Zahl an Femiziden wirksam zu begegnen, braucht es neben Verbesserungen in der Praxis vor allem bessere Schulungen aller Beteiligten und ein höheres Problembewusstsein in der Bevölkerung, meinen die Herausgeberinnen des neuen Handbuchs Gewaltschutzrecht, Astrid Deixler-Hübner, Professorin für Zivilverfahrensrecht an der JKU Linz und Mariella Mayrhofer, Juristin im Gewaltschutzzentrum Oberösterreich.

Interview: Roman Tronner

Fotos: : vlnr Mariella Mayrhofer und Astrid Deixler-Hübner/©privat und Fotostudio Engleder

Ihre Publikation „Gewaltschutzrecht“ ist ein Handbuch: Für wen ist es gemacht und welchen Mehrwert hat es gegenüber einem Kommentar?

Astrid Deixler-Hübner: Wir wenden uns neben dem juristischen Publikum – wie Rechtsanwält*innen, Notar*innen, Familienberatungsstellen auch das nicht-juristische Publikum. Mit dem Handbuch haben wir uns darauf konzentriert, in elf Kapiteln verschiedene Beiträge zu gestalten, die nicht nur das Gewaltschutzgesetz an sich betreffen, sondern auch das familienrechtliche Umfeld. Im Zentrum steht das Gewaltschutzrecht, um das herum weitere Themenbereiche als eigene Kapitel gruppiert sind, wie das Scheidungsrecht, das Kindschaftsrecht oder das Thema Obsorge.

Sie sprechen von juristischem und nicht-juristischem Publikum. Wer ist genau gemeint?

Deixler-Hübner: Ganz zentral Mitarbeiter*innen von Gewaltschutzzentren und Täter*innenberatungsstellen, aber auch Beratungsstellen für Familien, Betroffene von Gewalt sowie die Richter- und Anwaltschaft, natürlich auch die Polizei und Sicherheitsbehörden sowie alle Interessierte. Das Handbuch bietet kompaktes und praxisorientiertes Wissen samt anschaulicher Fallbeispiele und praktischer Hinweise zum Gewaltschutzrecht und damit verbundenen Aspekten und geht auch auf das Strafrecht ein. Wir kennen keine Publikation, wo alles so rundherum kompakt dargestellt wird.

Mariella Mayrhofer: Das Handbuch richtet sich zunächst an alle, die die erste Anlaufstelle von Betroffenen der häuslichen Gewalt sind. Das kann neben der Polizei und den Gerichten auch das Gesundheitspersonal sein, die Kinder und Jugendhilfe, Kinder- und Jugendanwaltschaft, vielleicht auch Personen im Bildungsbereich, wenn Kinder von Gewalt betroffen sind.

Nach einem Überblick zum Gewaltschutzrecht widmen sich die ersten Kapitel des Handbuchs dem Kindschaftsrecht sowie der Scheidung und Trennung im Konfliktfall. Warum?

Deixler-Hübner: Zu Gewalt und Übergriffen kommt es oft in Verbindung mit familienrechtlichen Themen wie Scheidung oder Obsorge. Daher sind diese Kapitel an den Anfang gestellt. In diesen Fällen kommt es dann meist zu Beratungen im Gewaltschutzzentrum, im Frauenhaus oder anderen Familienberatungsstellen. Die betroffenen Frauen, meistens sind es ja Frauen, manchmal auch Männer, möchten wissen, was passiert nun mit den Kindern, wie muss ich die Scheidung durchsetzen, kann ich in der vom Mann angemieteten Wohnung bleiben usw.

Mayrhofer: Man weiß aus der Forschung und wir merken das in den Gewaltschutzzentren, dass der Zeitpunkt der Trennung bzw Scheidung besonders gefährlich ist. Da ist es dann natürlich besonders wichtig zu wissen, an wen kann man sich wenden, wo bekommt man Unterstützung oder welche Rechte und Möglichkeiten gibt es überhaupt.

Gewaltschutzrecht

  • Darstellung der Gewaltschutzbestimmungen inkl jüngster Reformen: GeSchG 2019, Hass-im Netz-Bekämpfungs-Gesetz, Gesamtreform des Exekutionsrechts
  • Antworten auf Fragen in familiären Konfliktsituationen wie zB bei Scheidung, Trennung, Obsorge oder Kontaktrecht
  • Zahlreiche Fallbeispiele, Hinweise und Schriftsatzmuster im Anhang und zum Download
     

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Kommen wir zum Gewaltschutzgesetz. Dieses wurde 2019 umfangreich novelliert. Einer der wichtigsten Punkte war die Einführung des Annäherungsverbots, aber auch die Einrichtung von Gewaltpräventionszentren. Seit Inkrafttreten 2020 sind drei Jahre vergangen. Wo sehen Sie schon Verbesserungsbedarf?

Mayrhofer: Ich bin damals 2019 in der Arbeitsgruppe zum Betretungs- und Annäherungsverbot gesessen. Dessen Implementierung war damals ein ganz wichtiger Schritt. Ich möchte aber in dem Zusammenhang festhalten, dass es beispielsweise Fälle gibt, in denen es zielführend wäre, nur ein Annäherungsverbot allein auszusprechen. Dann nämlich, wenn der Wohnort der gefährdeten Person aus Sicherheitsgründen unbekannt bleiben sollte. Das ist derzeit nicht möglich, weil ein Annäherungs- immer mit einem Betretungsverbot[1] verbunden sein muss und weil laut Sicherheitspolizeigesetz dem Gefährdenden der Wohnort bekannt gegeben werden muss.

Wichtig war auch, dass mit der Reform 2019 eine Gewaltpräventionsberatung eingeführt wurde, also in Verbindung mit einem Betretungs- und Annäherungsverbot eine verpflichtende Beratung für die gefährdende Person. Das sind aber leider nur sechs Stunden. Das ist in meinen Augen definitiv zu wenig. Da würde es Sinn machen, dass man eine bedarfsorientierte Ausweitung beim Bezirksgericht beantragen kann. Das ist momentan noch nicht möglich.

Ein dritter Punkt: die ganz maßgebliche Zusammenarbeit zwischen den Opferschutzeinrichtungen und den Tätereinrichtungen. Da ist sehr oft der Datenschutz ein Hindernis. Warum? Weil man derzeit aus Datenschutzgründen die Zustimmung des Gefährdenden und des Opfers braucht. Ausnahmen bestehen bei Gefahr in Verzug. Hat man die Zustimmung nicht, können die Einrichtungen nicht miteinander kooperieren und sich austauschen. Hier sollte der Datenschutz in die Richtung geändert werden, dass sich die Einrichtungen gegenseitig ohne Zustimmung der Parteien informieren können.

Deixler-Hübner: Ich möchte noch auf die sogenannte Stalking-EV, also eine einstweilige Verfügung bei Stalking, § 382d Exekutionsordnung, verweisen. Im Gegensatz zu den anderen einstweiligen Verfügungen (in der Folge EV) bei häuslicher Gewalt verlängert der Antrag auf eine EV bei Stalking nicht das von der Polizei ausgesprochene Betretungs- und Annäherungsverbot von 14 Tagen auf vier Wochen. Hier sollte es aus meiner Sicht zu einer Harmonisierung der unterschiedlichen rechtlichen Grundlagen kommen. Denn Stalking bzw beharrliche Verfolgung greift ja ebenfalls massiv in den Persönlichkeitsbereich ein. Offenbar wurde dieses Thema vom Gesetzgeber weniger ernst genommen als die Gewaltschutzbestimmungen im engeren Sinn.

Mayrhofer: Diese Differenzierung ist aus Praxissicht nicht nachvollziehbar. Denn es gibt immer wieder Fälle häuslicher Gewalt, die nach einer Trennung in Stalking münden können. Dann verfolgt der Ex-Partner nach Beendigung der Beziehung die frühere Partnerin.

Deixler-Hübner: Richtig, und es gab schon Fälle – wir hören das leider aus den Medien – wo auf einzelne Vorfälle als Eskalation das Stalking folgte und dann bis zum Mord geführt hat.

Das Handbuch wie auch der 2022 veröffentlichte Evaluationsbericht des Innenministeriums zum Gewaltschutzrecht monieren, dass die Polizei relativ selten ein Annäherungs- und Betretungsverbot bei Stalking ausspricht. Stimmt das mit Ihren Erfahrungen überein?

Mayrhofer: Das ist richtig. Wir stellen immer wieder fest, dass bei beharrlicher Verfolgung kein Betretungs- und Annäherungsverbot ausgesprochen wird. Da bedarf es aus meiner Sicht einer intensiven Schulung aller Exekutivbeamt*innen. Denn im Erlass des Innenministeriums dazu ist klar festgehalten, dass auch bei Stalking die Voraussetzungen vorliegen können, ein solches Verbot auszusprechen.

Ein ausgesprochenes Annäherungs- und Betretungsverbot verpflichtet zum Gewaltpräventionsgespräch. Wirkt die bloße einstweilige Verfügung auch verpflichtend?

Mayrhofer: In diesem Fall muss ein Antrag beim zuständigen Gericht gestellt werden. Dieses kann dann dem Antragsgegner eine Gewaltpräventionsberatung auftragen. Aber das passiert nicht automatisch wie beim Betretungs- und Annäherungsverbot. Allerdings kann auch das Bezirksgericht selbst tätig werden und den Auftrag von Amts wegen erteilen.

Es kommt übrigens in Fällen psychischer Gewalt meistens nicht zu einem Betretungs- und Annäherungsverbot durch die Organe des Sicherheitsdiensts, sprich Polizei, sondern man stellt dann erst den Antrag auf EV. Ausnahmen bestehen natürlich bei gefährlichen Drohungen.

Wann beginnt die häusliche Gewalt, woran ist sie zu erkennen?

Mayrhofer: Meistens beginnt häusliche Gewalt sehr schleichend mit Formen, die gar nicht so leicht erkennbar sind. Am Anfang steht psychische Gewalt wie klassische Beschimpfungen, Demütigungen bis in weiterer Folge Drohungen, bevor es dann zu körperlicher Gewalt kommt. Die Abstände zwischen den Vorfällen sind anfangs sehr lange und mit der Zeit nimmt das an Dynamik auf. Meistens treten die Gewaltformen parallel auf. Bei körperlicher Gewalt in einer Beziehung gibt es meistens auch psychische Gewalt.

Deixler-Hübner: Aus meiner Perspektive wird dieser schleichende Beginn von den Gerichten nicht entsprechend wahrgenommen. Oft wird argumentiert, dass diese Ausformungen psychischer Gewalt Zwistigkeiten darstellten, die überall oder speziell in Ehen vorkommen können. Für das Gericht muss die psychische Gewalt schon massiver sein, sprich wiederkehrend bzw etwa mit gröberen Demütigungen verbunden sein oder wird dann als Gewalt interpretiert, wenn die psychischen Beeinträchtigungen Krankheitswert haben.

Aber man muss auch ehrlicherweise sagen, dass es manchmal Konstellationen gibt, wo die psychische Gewalt im Scheidungsverfahren vorgetäuscht wird, um dort bessere Karten zu haben. Darum sind Gerichte da ein bisschen vorsichtiger und im Zweifelsfall eher zurückhaltend.

Mayrhofer: In dem Zusammenhang fällt mir schon immer wieder auf, dass genau diese Einzelfälle bei Gericht oder der Polizei extrem lange in Erinnerung bleiben. Gerichte und Polizei tendieren dann eher dazu, Opfern langjähriger Gewaltbeziehungen diese negativen Verläufe anzulasten. Und die Täter-Opfer-Umkehr ist nach wie vor ein weitverbreitetes Phänomen.

Aus meiner Perspektive wird dieser schleichende Beginn von den Gerichten nicht entsprechend wahrgenommen. Oft wird argumentiert, dass diese Ausformungen psychischer Gewalt Zwistigkeiten darstellten, die überall oder speziell in Ehen vorkommen können.“ Astrid Deixler-Hübner

 

Wie könnte diese Situation verbessert werden?

Mayrhofer: Von besonderer Wichtigkeit ist die Sensibilisierung aller befassten Berufsgruppen, vor allem Richter*innen und Staatsanwaltschaft zum Thema häusliche Gewalt. Hier sollte die Schulung verbessert werden, damit sie die Dynamiken häuslicher Gewalt besser und frühzeitiger erkennen und die verschiedenen Formen und Fälle besser unterscheiden können.

Deixler-Hübner: Leider hinkt die Schulung der Richter*innenschaft immer noch sehr hinterher. Ich habe immer wieder – auch in Zusammenhang mit dem Kindschaftsrechts-Änderungsgesetz – gefordert, dass gerade die jungen Richter*innen, die in den familiengerichtlichen Abteilungen ihre Laufbahn beginnen und noch wenig Lebenserfahrung haben, besser geschult werden. Das ist leider bis heute ein großes Manko.

Mayrhofer: Ein Grund ist, dass die Annahme bestehender Fortbildungsangebote auf Freiwilligkeit beruht. Es nehmen daher nur jene teil, die ohnehin schon sensibilisiert oder interessiert sind. Eine Verpflichtung wäre daher gut.

„Von besonderer Wichtigkeit ist die Sensibilisierung aller befassten Berufsgruppen, vor allem Richter*innen und Staatsanwaltschaft zum Thema häusliche Gewalt.“ Mariella Mayrhofer

 

Den Bedarf an mehr Sensibilisierung bei allen Beteiligten sieht auch der Evaluationsbericht des Innenministeriums zum Gewaltschutzrecht. Was wäre darüber hinaus erforderlich?

Mayrhofer: Wichtig ist, endlich ein einheitliches Risiko- und Gefährdungseinschätzungstool einzuführen. Wir haben noch immer nicht für alle Behörden, Polizei und Gerichte verpflichtend ein einheitliches Tool, um Gefährdung zu beurteilen und einzuschätzen.

Hängt die Ausprägung häuslicher Gewalt vom gesellschaftlichen Milieu ab?

Mayrhofer: Definitiv nicht. Die betroffenen Frauen kommen aus allen sozialen Schichten. Es macht in der Beratung keinen Unterschied, ob die Opfer Akademiker*innen sind oder aus einem sehr armutsgefährdeten Milieu kommen. Die Fälle decken sich im Hinblick auf die Gewaltdynamik. Häusliche Gewalt dient der gewaltausübenden Person häufig dazu, Macht und Kontrolle über sein Opfer herzustellen und aufrechtzuerhalten. Der Unterschied liegt eher darin, wie sich die Betroffenen dagegen zur Wehr setzen. Wir haben in der Beratung hier im Gewaltschutzzentrum selten Akademiker*innen, die gehen eher zum/zur Anwält*in und lassen sich dort beraten. Hierher kommen häufig jene, die sich die anwaltliche Unterstützung nicht leisten können. Wir bieten aber neben rechtlicher Beratung auch psychosoziale Unterstützung, erstellen beispielsweise Sicherheitspläne mit den Betroffenen.

Deixler-Hübner: Viele, vor allem höher und akademisch Gebildete, nehmen zunächst die schleichende Dynamik der Gewaltbeziehung hin und glauben, es wird besser. Es dauert da ein bisschen länger, bis man realisiert, ich etwas tun muss. Höhere Bildungsschichten wollen die Entwicklung oft nicht wahrhaben, weil Gewalterfahrung dort ja auch gesellschaftlich mit größeren Schamgefühlen verbunden ist. Oft wird ja auch bei Angehörigen dieser Milieus die Gewalterfahrung weniger geglaubt, als zu Beispiel jemandem aus einem migrantischen Milieu. Meine Vermutung ist, dass Behörden und Gerichte aufgrund der Annahme, Gewalt sei kulturspezifisch und trete in einem migrantischen Milieu selbstverständlicher auf, geneigt sind, Betroffenen aus solchen Milieus mehr Glauben zu schenken als höheren Bildungsschichten.

Das heißt, der kulturelle Hintergrund spielt eine Rolle?

Deixler-Hübner: Ich persönlich glaube schon, dass Gewalt in Kulturen mit archaischem Hintergrund häufiger vorkommt. Wenn man das leugnen würde, würde man ja die vorgefundene Realität ausblenden; das ist uns offenbar allen klar. In bestimmten, streng religiösen Kulturen haben Frauen einen anderen Stellenwert als Männer. Vermutlich ist Gewalt aber auch in den Herkunftsländern häufig ein Milieu-Problem. Frauen mit Migrationshintergrund müssen daher auch intensiver ermutigt werden, auswärtige Hilfe zu suchen.

Mayrhofer: Meine Erfahrung ist, dass es beispielsweise in gewissen Kulturen Drohungen oder gewisse Aussprüche gibt, die man bei uns nicht kennt oder so nicht formulieren würde. Generell muss man natürlich sagen: Eine von Gewalt betroffene Migrantin hat es viel schwieriger. Möglicherweise hängt der Aufenthaltstitel am Mann oder es gibt eine starke finanzielle Abhängigkeit. Dazu kommen Sprachprobleme und die Skepsis gegenüber der Polizei. Eine typische Ursache des Misstrauens ist Korruption im Herkunftsland. Es ist dann viel schwieriger, sich aus einer Gewaltbeziehung zu lösen. Um das Bild zu komplettieren: 2022 hatten wir im Gewaltschutzzentrum Oberösterreich 63 Prozent Österreicher*innen und 37 Prozent Migrant*innen in der Beratung.

Das heißt, es würde durchaus Sinn machen, auch mehr Diversität in der Zusammensetzung der Polizei zu haben?

Mayrhofer: Unbedingt. Nicht nur in der Polizei, sondern bei allen Behörden und in der Richter*innenschaft.

Deixler-Hübner: Insgesamt sollte beim Thema Gewaltschutz niederschwelliger angesetzt werden und man auch in der Beratung auf den Einsatz von Mitarbeiter*innen mit Migrationshintergrund setzen, um misshandelten Frauen den Zugang zu erleichtern.

Obwohl er im Strafgesetzbuch nicht auftaucht, verwenden vor allem Medien in jüngster Vergangenheit häufig den Begriff Femizid, also Tötungsdelikt aufgrund des weiblichen Geschlechts. Ist er hilfreich für den Gewaltschutz, wo es doch eigentlich keine gängige Definition gibt?

Deixler-Hübner: Ich glaube, das ist eine wichtige Sensibilisierung, da wir in Österreich im Vergleich zu anderen Ländern jetzt mehr solche Fälle haben[2]. Es geht also darum zu sagen: Achtung, hier liegt etwas im Argen. Der Begriff ist zwar im juristischen Bereich noch nicht angekommen, dennoch halte ich es für sinnvoll, aufgrund der Häufigkeit diese Fälle so zu benennen. Femizide passieren meistens im Beziehungsbereich, wenn Frauen sich trennen wollen. Das Motiv ist, Frauen damit zu beherrschen, sie nicht aus dem eigenen Machtbereich zu entlassen. Beliebige Femizide ausschließlich aus Frauenhass kommen selten vor.

Mayrhofer: Es ist hilfreich, dass man den Begriff verwendet, um Bewusstsein zu schaffen für die strukturelle Gewalt gegen Frauen und die Notwendigkeit gezielter Maßnahmen dagegen. Es geht um geschlechtsspezifische Gewalt im Beziehungskontext. Österreich hat im EU-Schnitt wirklich eine extrem hohe Rate[3]. Von daher empfinde ich den Begriff als sehr hilfreich, auch wenn er nicht einheitlich definiert wird.

Wie reagieren Gesetzgebung und Rechtsprechung? Hat sich in den vergangenen Jahren bei häuslicher Gewalt und bei Tötung die Strafzumessung geändert?

Mayrhofer: Es gibt im Strafrecht mittlerweile einen besonderen Erschwerungsgrund bei Gewalt gegen einen nahen Angehörigen. Hintergrund sind natürlich auch die zunehmenden Femizide. Die Strafzumessung hängt aber immer davon ab, wer das Urteil spricht.

Deixler-Hübner: Man muss auch sehen: Die möglichen Strafrahmen, etwa bei Mord, werden bei weitem nicht ausgeschöpft. Es kommt letztlich immer darauf an, zu welchem Richter oder zu welcher Richterin man kommt. Da spielen Gesetze weniger eine Rolle. Darum plädiere ich ja auch für mehr Ausbildung der gerade im Bereich häuslicher Gewalt oft noch jungen Richterinnen und Richter.

Mayrhofer: Auch bei Vergewaltigung haben wir in Österreich übrigens eine sehr niedrige Verurteilungsrate. Da steht dann oft Aussage gegen Aussage und es kommt gar nicht zum Urteil. Was die Morde bzw Femizide betrifft: Sie passieren leider trotz der Gesetze und der Strafdrohungen. Wichtig wäre auch, dass Gerichte öfter als heute Täter zu Anti-Gewalt-Trainings zuweisen. Das Strafrecht würde dazu die Möglichkeit der Weisung bieten, die aber zu selten wahrgenommen wird. Das Opfer hat keine Möglichkeit eine Weisung durchzusetzen. Außerdem fehlen gesetzliche Möglichkeiten, dass die Polizei über strafgerichtliche Weisungen in Kenntnis gesetzt wird und bei einem Verstoß, beispielsweise gegen ein Kontaktverbot, einschreiten kann.

Es geht aber insgesamt um ein gesamtgesellschaftliches Umdenken. Es müsste eine klare Positionierung in der Gesellschaft geben, dass Gewalt und Machtmissbrauch nicht akzeptiert wird. Wir haben in Österreich schon sehr viele legistische Schritte unternommen. Trotzdem haben wir noch immer so hohe Fallzahlen häuslicher Gewalt. Dass diese Fälle sichtbar werden, hängt natürlich davon ab, dass die Leute mittlerweile sensibilisiert dafür sind, dass es Unterstützung gibt, dass es Möglichkeiten gibt, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Und trotzdem ist die Dunkelziffer noch immer extrem hoch.

„Es geht also insgesamt um ein gesamtgesellschaftliches Umdenken. Wir haben in Österreich schon sehr viele legistische Schritte unternommen. Trotzdem haben wir noch immer so hohe Fallzahlen häuslicher Gewalt.“ Mariella Mayrhofer

 

Mit der Reform 2019 wurden auch die sicherheitspolizeilichen Fallkonferenzen eingeführt. Der Evaluationsbericht sieht auch hier Verbesserungsbedarf der Zusammenarbeit. Was ist Ihre Einschätzung?

Mayrhofer: Oberösterreich hat hier eine Vorbildwirkung. Die Exekutive, die Sicherheitsbehörde, das Gewaltschutzzentrum und der Verein Neustart arbeiten eng zusammen. Das gemeinsam erarbeitete Konzept wurde auf ganz Österreich ausgeweitet. Wir haben da eine recht gute Zusammenarbeit in Oberösterreich und das funktioniert wirklich wunderbar. Andere Bundesländer kann ich nicht beurteilen.

Deixler-Hübner: Insgesamt hat sich die Situation schon sehr verbessert, wenn man ein Jahrzehnt zurückdenkt. Aus meiner Sicht ist aber bei den sicherheitspolizeilichen Fallkonferenzen die Zusammenarbeit mit den Kinder- und Jugendhilfeträgern zu verstärken für die Fälle, wo Kinder von Gewalt betroffen sind. In einem solchen Fall müsste ja an sich der Kinder- und Jugendhilfeträger von sich aus sofort tätig werden. Das passiert leider nicht in dem Maß, wie man sich das wünschen würde. Man denke an den Fall des misshandelten Buben in Niederösterreich. Auch bei den Kinder- und Jugendhilfeträgern ist neben der Zusammenarbeit mit den Fallkonferenzen Schulungsbedarf zum Thema häusliche Gewalt gegeben.

„Bei den sicherheitspolizeilichen Fallkonferenzen sollte die Zusammenarbeit mit den Kinder- und Jugendhilfeträgern verstärkt werden für die Fälle, wo Kinder von Gewalt betroffen sind.“ Astrid Deixler-Hübner

 

Mayrhofer: In Zusammenhang mit Kindern und häuslicher Gewalt sehe ich einen weiteren Verbesserungsbedarf: das Kontaktrecht. Miterlebte Gewalt wird in der Praxis häufig unterschätzt. Auch wenn die Kinder nicht direkt von der häuslichen Gewalt betroffen sind, wäre es, wie auch ein jüngster Fall mit Todesfolgen gezeigt hat, angebracht, öfter die Besuchskontakte auszusetzen oder nur professionell begleitet stattfinden zu lassen. Denn eine Studie hat hier gezeigt: Nicht nur, dass die Kinder durch die häusliche Gewalt traumatisiert sind, sondern auch, dass das Risiko enorm steigt, selbst Opfer von Gewalt zu werden. Da fehlt es an Sensibilisierung bei den Zuständigen.

Deixler-Hübner: Dieses Problem besteht leider schon lange und liegt nicht an einer gesetzlichen Lücke, sondern an der Praxis, dass die agierenden Personen zu lange zuwarten und sich nicht umfangreich genug austauschen.

Abschließend ein Blick nach Europa. Derzeit wird auf EU-Ebene die Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt verhandelt. Welche Auswirkungen erwarten Sie für Österreich?

Mayrhofer: Österreich ist bereits 2016 als erstes Land von GREVIO überwacht worden. GREVIO ist der Monitoring-Mechanismus des Europaratsübereinkommens zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Dieses Expert*innengremium erarbeitet jetzt den ersten thematischen Evaluierungsbericht und befragt Behörden und Einrichtungen. Die Gewaltschutzzentren sind bereits befragt worden. Es gilt, den Bericht abzuwarten. Ich teile die Einschätzung: Wir sind in Österreich sehr weit, was die gesetzlichen Bestimmungen gibt. Natürlich gibt es kleine Stellschrauben, an denen gedreht werden kann. Aber wir haben da sicher europaweite Vorbildwirkung.

 


[1] 2022 wurden 14.643 Betretungs- und Annäherungsverbote von der Polizei verhängt. Quelle: Autonome Frauenhäuser Österreich; https://www.aoef.at/index.php/zahlen-und-daten)
[2] Laut polizeilicher Kriminalstatistik sind von den bis dato 18 Morden an Frauen 2023 16 als Femizid einzustufen. 2022 gab es 29 Morde an Frauen. Quelle: Autonome Österreichische Frauenhäuser; https://www.aoef.at/index.php/zahlen-und-daten)
[3] Österreich lag bei Frauenmorden im Jahr 2009, 2011, 2016 und 2018 im obersten Drittel der meisten weiblichen Mordopfern pro 100.000 Einwohnern in der EU. Quelle: APA; https://apa.at/faktencheck/vergleich-der-frauenmord-rate-in-europa/)

Univ.-Prof.in Dr.in Astrid Deixler-Hübner
leitet das Institut für Europäisches und Österreichisches Zivilverfahrensrecht der Johannes Kepler Universität Linz. Sie ist Partnerin internationaler Forschungsprojekte – zB dem DACH Projekt über familiäre Vermögensplanung – sowie Vorstandsvorsitzende der Österreichischen Gesellschaft für Familien- und Vermögensrecht (ogfv).

Mag.iur. Mariella Mayrhofer, MA
ist als Juristin für Rechtsschutz und Öffentlichkeitsarbeit im Gewaltschutzzentrum OÖ zuständig. Sie hat ua. in mehreren Arbeitsgruppen der Task Force Strafrecht – Kommission Opferschutz & Täterarbeit im Innenministerium mitgewirkt.