Freiheitsverlust in Zeiten des Virus

Im Interview: Benjamin Kneihs 

Mai 2020

Die Politik hat massiv in die Freiheit der Menschen eingegriffen. Reisefreiheit, Versammlungsfreiheit, Demonstrationsrecht – noch nie wurden unsere Grundrechte in der Zweiten Republik soweit eingeschränkt. Corona-Schutz muss als Begründung herhalten – ein Schutz, der seine Grenzen hat und haben muss. Im Interview warnt Professor Benjamin Kneihs von der Uni Salzburg vor totalitären Versuchungen und fordert einen sofortigen Stopp des Rückbaus der Demokratie.

Foto: Benjamin Kneihs/©Haigermoser

Die aktuelle Gesetzgebung ist für viele Expertinnen und Experten aus demokratie-politischer und verfassungsrechtlicher Sicht bedenklich. Der frühere Bundespräsident Heinz Fischer warnt vor "Kollateralschäden" für Grundrechte und Verfassung. Was ist Ihre Meinung dazu? 

Das muss man, meine ich, differenziert betrachten. Eine Frage betrifft die Inhalte. Die Maßnahmen der Bundesregierung haben die gravierendsten Grundrechtseingriffe der ganzen Zweiten Republik mit sich gebracht. Das kann man nicht kleinreden. Wir sprechen mindestens von der Erwerbsausübungsfreiheit, der Religionsfreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Freiheit der Kunst und der Freiheit der Wissenschaft, von der Freizügigkeit und in manchen Fällen vom verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Persönliche Freiheit, in manchen Fällen gar vom Recht auf Leben. Auf der anderen Seite steht eine wenigstens anfangs unabschätzbare Bedrohungslage, in der die Bundesregierung unter hohem Zeitdruck mit sehr unvollständiger Information handeln musste – übrigens auch, um grundrechtlichen Schutzpflichten Genüge zu tun. Man müsste nun jede der getroffenen Maßnahmen im Einzelnen an jedem jeweils betroffenen Grundrecht messen, um seriöse Aussagen darüber zu treffen, ob sie jeweils gerechtfertigt sind. Das wird für viele dieser Maßnahmen durchaus der Fall sein. Das kann sich aber auf der Zeitachse auch ändern. Mit wachsender Information, sinkender Kurve und steigenden Möglichkeiten der Prävention sind manche Maßnahmen nach ein paar Wochen vielleicht nicht mehr verhältnismäßig, die es anfangs noch waren. Und ganz bestimmt hätte man die zum Teil eklatanten Unsicherheiten in Formulierung und Vollzug der diversen Gesetze und Verordnungen in der Zwischenzeit bereinigen können.

Womit ich beim zweiten Punkt anlange, nämlich dem rechtsstaatlichen. Die gesamte staatliche Verwaltung darf in Österreich nur auf Grund der Gesetze ausgeübt und auch Verordnungen dürfen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nur auf Grund parlamentarischer Gesetze erlassen werden. Damit wird dem Demokratischen Prinzip Rechnung getragen und es wird zugleich Rechtsstaatlichkeit, insbesondere Vorhersehbarkeit und Gleichmäßigkeit sicher gestellt. Die Grundrechtseingriffe, von denen zuvor die Rede war, beruhen zum Teil auf dünnen und dünnsten gesetzlichen Grundlagen, von denen nicht in jedem Fall klar ist, ob sie inhaltlich auch wirklich alles das abdecken, was in den Verordnungen steht.

Wenn das Gesetz zB den Bundesminister dazu ermächtigt, das Betreten öffentlicher Orte zu regeln, dann habe ich starke Zweifel, ob das auch einschließt, dass er regeln darf, wie ich mich an einem privaten Ort zu verhalten habe, an dem ich den öffentlichen Raum verlasse (in einem Geschäft, einer Ordination oder an einem sonstigen Ort etwa, an dem ich dringende Bedürfnisse des täglichen Lebens decke). Es gibt zwar auch im Epidemiegesetz eine Verordnungsermächtigung, die inhaltlich etwas weiter ist, aber sie ist an den Bezirkshauptmann gerichtet und deckt nicht Verordnungen des Bundesministers. Oder wenn zuerst gesagt wird, Kinder dürfen den jeweils anderen Elternteil nun nicht besuchen, und dann geht es plötzlich doch. Es kann nicht gut beides gleichzeitig in der Verordnung stehen. Und wenn das Gesetz eine solche volatile Verordnungsgebung erlaubt, ist es selbst verfassungswidrig. Die wesentlichen Entscheidungen muss nämlich in Österreich eben der Gesetzgeber treffen, das ist die Rückbindung an das Demokratische Prinzip, von der ich vorhin gesprochen habe. Wenn dann übrigens außerdem der Besuch beim anderen Elternteil unter die Deckung der Grundbedürfnisse fällt, dann bestünde dort Abstands- und Maskenpflicht.

Dem Rückbau der Demokratie und jedweder totalitären Versuchung muss sofort und entschieden Einhalt geboten werden.

Das sind nur Details, aber sie zeigen: Eine ordentliche rechtsstaatliche Vorherbestimmung sieht anders aus. Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass die Bundesregierung oder ihre Mitglieder wie seinerzeit auf Basis des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes praktisch alles mit Verordnung festlegen, mit dünnen und dünnsten Anbindungen an das Gesetz. Und wenn das alles dann auch noch – deshalb habe ich vorher vom Kontakt der Kinder mit beiden Elternteilen gesprochen – in sensibelsten Grundrechtsbereichen spielt, dann ist umso größere Vorsicht geboten. Nicht umsonst erlaubt auch die Europäische Menschenrechtskonvention, die bei uns Verfassungsrecht ist, nur Eingriffe, die in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind. Das ist keine leere Formel, sondern sie macht deutlich, dass derartige Eingriffe, und zwar umso mehr, je schwerer sie wiegen, dem gesellschaftlichen Diskurs ausgesetzt sein und eben vom Parlament getragen werden müssen und nicht einfach an die Bundes- oder eine Landesregierung delegiert werden dürfen.

Wenn wir uns damit abfinden, dass die Regierung per Verordnung das gesamte öffentliche, private und religiöse Leben, aber auch die Ausübung von Wissenschaft und Kunst reglementiert, dann riskieren wir, dass sich das verselbständigt. Dem Rückbau der Demokratie und jedweder totalitären Versuchung muss sofort und entschieden Einhalt geboten werden. Die Bundesverfassung, deren Schönheit Bundespräsident Alexander Van der Bellen im Sommer so gelobt hat, gilt auch in Krisenzeiten.

Wo sehen Sie Probleme bei den Corona-Regeln? Inwieweit wird unverhältnismäßig in Grundrechte eingegriffen? Welche Maßnahmen sind gerechtfertigt?

Das ist sicher nicht in ein paar Sätzen zu beantworten. Ich schreibe mit ein paar Kollegen an einem Aufsatz dazu und das wird sehr umfassend, das sieht man jetzt schon, obwohl wir noch mitten drin sind. Es sind einfach zu viele Regelungen, die unter dem Gesichtspunkt so vieler Grundrechte relevant sind, um hier eine pauschale oder auch nur eine summarische Antwort zu geben. Ich würde vorsichtig sagen – wie schon oben angedeutet – im Moment der Not war vielleicht manches, auch sehr weit gehendes, grundrechtlich erlaubt. ZB ist es grundrechtlich im Prinzip ganz in Ordnung, jemanden abzusondern, der eine Gefahr für die Ausbreitung gefährlicher ansteckender Krankheiten ist. Oder den Ausgang für Strafgefangene zu unterbrechen, damit sie das Virus nicht in die Anstalt einschleppen können. Ob aber zB für sie das Verbot gerechtfertigt ist, Pakete zu empfangen, das erscheint mir doch zweifelhaft. Auf unbelebten Gegenständen überlebt das Virus nicht so lange, dass man Menschen Pakete ganz vorenthalten müsste, die man auch einfach mit Verzögerung ausgeben kann.

Mit fortschreitendem Geschehen sind aber Nachbesserungen ausgeblieben. Und je weiter die Lockerungen gehen, desto mehr stellen sich dann auch wieder Fragen: Warum dürfen die Menschen zwar in den Baumarkt, aber nicht zu einer Versammlung oder zum Gottesdienst gehen? Das Versammlungsgrundrecht ist wie die Religionsfreiheit völker-, unions- und verfassungsrechtlich abgesichert. Das hat doch vielleicht mehr Gewicht als das Bedürfnis nach neuer Blumenerde. Ich übersehe nicht, dass Menschen zu Hause eine sinnvolle Beschäftigung brauchen, zumal wenn man sie im Wesentlichen auf dieses Zuhause beschränkt. Aber der besondere Schutz, den die Grundrechte als verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht gewähren, ist eben auch in Rechnung zu stellen. Nicht jede Versammlung ist eine Gefahr für die Ausbreitung der Krankheit und Abstand halten kann man auf Versammlungen oder beim Gottesdienst auch. Der Mund-Nasen-Schutz gerät vielleicht in Konflikt mit dem Vermummungsverbot, da bräuchte man eine gescheite Regelung.

Oder nehmen Sie die Besuchsbeschränkungen im Strafvollzug und im Krankenhaus. Die Besuchsbeschränkungen im Strafvollzug sind übrigens wenigstens rechtsstaatlich ordentlich in Gesetz und Verordnung vorherbestimmt. In den Krankenhäusern hat man das wohl eher hemdsärmelig gemacht, obwohl das Recht auf Besuch nicht nur aus Art 8 EMRK folgt, sondern auch einfachgesetzlich im Krankenanstaltenrecht verankert ist. Ich sage nicht, dass das keine sinnvollen Maßnahmen sind. Sie sind vielleicht auch anhand der jeweils einschlägigen Grundrechte zu rechtfertigen. Aber im zeitlichen Verlauf muss man sich wieder neu die Frage stellen, was – auch im Vergleich zu Lockerungen in anderen Bereichen – noch gerechtfertigt werden kann.

Problematisch finde ich die vorübergehende Schließung von Ambulanzen und Ordinationen, als ob Menschen mit anderen Krankheiten als Covid keine gesundheitliche Versorgung bräuchten, und problematisch ist daran auch, dass das in einem rechtlichen Graubereich geschehen ist, der sich nicht klar auf eine gesetzliche Regelung oder eine Verordnung zurück führen lässt. Problematisch sind auch die Einreisebeschränkungen für österreichische Staatsbürger. Die haben nämlich nach dem 4. ZP zur EMRK ein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht auf Einreise. Das kann man nicht verweigern, bloß weil einer keinen Test mit bringt. Den muss der Staat schon an der Grenze selber machen, um den Verdacht zu begründen, dass der Betroffene eine Gefahr für die Ausbreitung der Krankheit ist. Da hilft auch keine „freiwillige“ Heimquarantäne, denn die ist ja überhaupt nicht freiwillig, wenn sie die Bedingung für die Einreise ist. Unionsbürger dürfen übrigens nach Art 20 Abs 1 lit a und 21 AEUV sowie Art 45 GRC unter den gleichen Bedingungen einreisen wie Österreicher.

Es ist vielmehr unser Recht, dass nur diejenigen Maßnahmen ergriffen und aufrecht erhalten werden, die auch mit unseren Grundrechten vereinbar sind. Und dass alle anderen nach und nach aufgehoben werden.

Ich wiederhole aber, dass die außerordentliche Gefahr bei gleichzeitig minimaler Information wenigstens am Beginn, also etwa Anfang, Mitte März, noch vieles gerechtfertigt hat, was jetzt ohnehin nach und nach gelockert wird. Wir dürfen das allerdings nicht als Gnade ansehen, die man uns gewährt. Es ist vielmehr unser Recht, dass nur diejenigen Maßnahmen ergriffen und aufrecht erhalten werden, die auch mit unseren Grundrechten vereinbar sind. Und dass alle anderen nach und nach aufgehoben werden.

Beim Verfassungsgerichtshof sind rund 20 Individualanträge zu den Corona-Maßnahmen eingelangt. Kann die nachträgliche Prüfung durch den VfGH die fehlende Einbindung des Verfassungsdienstes bei der Entstehung der Gesetze und Verordnungen ersetzen?

Das sind juristisch zwei getrennte Fragen. Nirgends in unserer Bundesverfassung wird der Rechtsschutz vor dem VfGH mit der Begutachtung von Gesetzen durch den Verfassungsdienst in Zusammenhang gebracht. Politisch ist es sicher wünschenswert, wenn die Gesetze dort durchgehen. Das ist eben auch zu Beginn unter dem großen Druck der Ereignisse unterblieben. Das war aber keine Normalität. Keine alte, und erst recht sollte es keine neue werden. Normal ist es, dass die Gesetze dort begutachtet werden und das tut ihnen in aller Regel nicht schlecht. Insofern stellt sich aber die Frage nicht, ob der VfGH diese Begutachtungen ersetzen kann. Der VfGH kann nur die Konsequenzen ziehen, wenn zB aus dem Mangel der Begutachtung heraus Fehler passieren.

Was ist Ihrer Meinung nach von der von Gesundheitsminister Rudolf Anschober eingesetzten Expertengruppe zu erwarten?

Schwer zu sagen. Ich habe keine genaue Wahrnehmung darüber, wer da drin ist und was genau deren Auftrag sein soll. Präsident Jabloner genießt jedenfalls mein vollstes Vertrauen. Er gehört der Gruppe ja nach Medieninformationen an.

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