Nachhaltigkeitsrecht Kolumne #4

Österreichische Gesetzgebung: Zwischen unerfüllten Zielsetzungen und Nachhaltigkeits-Mainstreaming

Juni 2022

Die Notwendigkeit rascher und klarer nationaler Maßnahmen zur Umsetzung der Klimawende ist unbestritten. Wie auch der Ukraine-Krieg deutlich macht, muss die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern rasch beendet werden. Aber nicht bloß um Europas Sicherheit zu stärken und Finanzströme in kriegsführende Staaten zu unterbinden, sondern vor allem um die in der Gesamtdimension ihrer Folgen nur schwer abschätzbare Klimaerwärmung zumindest zu verlangsamen, das Auftreten damit verbundener Extremwetterereignisse zu minimieren und das begonnene Massenartensterben im Anthropozän soweit möglich in seinem Fortschreiten zu verhindern.

Text: Markus P. Beham und Berthold Hofbauer 

Zielsetzungen ohne normative Kraft

Österreich ist im Bereich der politischen Zielsetzungen zwar durchaus ambitioniert; in der Umsetzung stockt es allerdings: So fehlt zB noch immer das mit Regierungsantritt 2020 angekündigte Klimaschutzgesetz, das den Klimafahrplan bis 2040 in Österreich verbindlich determinieren soll. Aber auch das neue Energieeffizienzgesetz sowie das Erneuerbare-Wärme-Gesetz, das letztlich das Ende für Gas- und Öl einläuten soll, harren ihrer Umsetzung. Diesem ernüchternden „track record“ folgend, ist auch das für die öffentliche Vergabe angekündigte „neuformulierte Bestbieterprinzip mit ökologischen Aspekten“ bis dato nicht umgesetzt.

Erschwerend kommt neuerdings hinzu, dass bereits erkämpfte „Etappensiege“ nachträglich aberkannt werden: So soll die in Österreich bereits für 1. Juli 2022 beschlossene CO2-Steuer auf Herbst verschoben werden (fürs Erste). Wenngleich kurzfristige Notstandssituationen in der Abwägung Berücksichtigung finden müssen, erscheint die Leichtigkeit, mit der gerade diese eine Maßnahme zurückgenommen wurde, gegenüber anderen Alternativen gegen die Teuerung aus nachhaltigkeitsrechtlicher Sicht durchaus fragwürdig. Anstatt eine offene Diskussion über Energiealternativen zu führen, wird kurzerhand das Fernheizkraftwerk Mellach wieder auf Kohle umgestellt.

Nicht zuletzt zählt gerade diese Form der Verzögerung und Nicht-Umsetzung nachhaltiger Gesetzgebung zu den entscheidenden Gründen, weshalb Österreich ganz unabhängig der Leistungen in anderen Bereichen der Nachhaltigkeitsziele im internationalen Klimaschutzindex als „Low Perfomer“ gerankt ist. Ganz deutlich wird dies von der EU-Kommission im aktuellen „Europäischen Semester“ festgehalten: „Austria is not on track to meet its ambitious target of climate neutrality by 2040. So far, reductions in greenhouse gas emissions are not on a trajectory compatible with Austria’s binding target to reduce greenhouse gas emissions […] by 36% by 2030 compared to 2005.“

Nachhaltigkeits-Mainstreaming

Innerhalb der rechtswissenschaftlichen Debatte hat Nachhaltigkeit aber mittlerweile eine zentrale Position erhalten: neben der Zeitschrift für Nachhaltigkeitsrecht samt Schriftenreihe, einem ersten Handbuch Nachhaltigkeitsrecht, einer neuen Zeitschrift für Klimarecht und einem Forschungsnetzwerk „Junges Nachhaltigkeitsrecht“ an der Ludwig-Maximilians-Universität finden über alle Rechtsbereiche hindurch Fachtagungen, Webinare und Schulungen zum Thema Nachhaltigkeitsrecht statt. Wissenschaftliche Stellenausschreibungen fordern regelmäßig Kompetenzen in diesem Bereich.

Soll das Recht seine gesellschaftliche Rolle weiterhin erfüllen, müssen die nachhaltigkeitsrechtlichen Verpflichtungen – unmittelbar und mittelbar etwa aus den SDGs, dem Pariser Klimaschutzabkommen, dem Green Deal und dem Europäischen Klimaschutzgesetz – im Hinblick auf den fehlende politischen Impetus auf anderen Bahnen erreicht werden (wie es etwa durch „strategic litigation“ bereits der Fall ist). Die erforderliche Perspektivenumkehr von den politischen Nachhaltigkeitszielen hin zu den einzelnen Rechtsgebieten zeigt einen neuen juristischen Denkansatz und methodische Perspektive an, die nunmehr auch in der Rechtsanwendung mitgedacht und -berücksichtigt werden müssen. Das klassische Diktum der Gleichheit von Abwägungsgründen in der öffentlichen Verwaltung wird dabei auch zunehmend von einer Priorisierung von Umweltschutzerwägungen durchbrochen, wie dies auch das deutsche Bundesverfassungsgericht anzudeuten scheint.

Insofern lässt sich auch von einem „Nachhaltigkeits-Mainstreaming“ im Recht sprechen. „Mainstreaming“ (frei übersetzt: zur Hauptströmung machen) bedeutet in diesem Zusammenhang, dass eine bestimmte inhaltliche Vorgabe – hier die Nachhaltigkeit – zu einem zentralen Bestandteil bei allen rechtlichen Entscheidungen und Prozessen gemacht wird (vgl die Definition im Online-Lexikon auf der Website des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung). Das „Nachhaltigkeits-Mainstreaming“ hat demnach zur Folge, dass sämtlichen rechtlichen Vorgängen auch eine nachhaltigkeitsrechtliche Folgenberücksichtigung innewohnt – im Hinblick auf Interpretationsspielräume und die Durchdringung des Mehrebenensystems möglicherweise auch ohne zugrundeliegendes „hard law“ im nationalen Recht.

Herausforderungen für Wissenschaft und Praxis

Welche Schlüsse können aus dieser Disparität zwischen unerfüllten politischen Zielsetzungen und Nachhaltigkeits-Mainstream gezogen werden?

1. Die SDGs – und damit das Ziel nachhaltiger Entwicklung – finden sich auf Ebene des zwischenstaatlichen Völkerrechts, flankiert von den zunehmend konkreteren Verpflichtungen auf Ebene der Europäischen Union (Stichwort „Fit-for-55“). Wer im Sinne von Compliance und vorausplanender Risikominimierung nachhaltigkeitsrechtlich „fit“ sein möchte, muss diese internationale Materie im Blick haben und in ihrer Anwendung firm werden. Ein Blick ausschließlich auf die nächsthöhere innerstaatliche Vorschrift reicht nicht; insbesondere wenn der nationale Gesetzgeber hinterherhinkt.

2. Wenn Wissenschaft und Praxis ihre Ansätze im Sinne des Nachhaltigkeitsrechts neu konzeptualisieren, um dem Anspruch gerecht zu werden, dass ihre Lösungen auch rechtliche Nachhaltigkeit bieten, entsteht Raum, diese Neuausrichtung – auch zur späteren Aufnahme durch den Gesetzgeber – mit kreativen Ansätzen zu komplementieren und dadurch resilienter zu gestalten. Dafür ist ein verstärkter interdisziplinärer Dialog notwendig, der es erlaubt, sämtliche Prozesse den Erfordernissen der Nachhaltigkeitsziele anzupassen.

3. Die letzte Konsequenz der nachhaltigkeitsrechtlichen Betrachtung ist noch nicht absehbar. Doch können es sich die öffentliche Hand, Unternehmer*innen und Rechtsberater*innen schon aus Markterwägungen schon jetzt nicht mehr leisten, diese Perspektive gänzlich auszuklammern. Je mehr ein modernes, wissenschaftsbasiertes Umweltbewusstsein unsere Gesellschaft durchdringt und die Alternativlosigkeit nachhaltigen Handelns in den allgemeinen Fokus rückt, desto mehr wird Nachhaltigkeitsrecht zur gefragten Schlüsselkompetenz. Dies freilich ganz abgesehen von zunehmenden rechtlichen Vorgaben, wie sie beispielsweise dem deutschen Lieferkettengesetz und nun auch dem europäischen Richtlinienentwurf zu entnehmen sind.

Ausblick

Es bleibt vor diesem Hintergrund abzuwarten, wie und wann der österreichische Gesetzgeber seiner nachhaltigkeitsrechtlichen Verantwortung vollständig nachkommt. Oder braucht es neben den ersten erfolgreichen deutschen und niederländischen Vorstößen auch noch eine Klimaklage gegen die Republik Österreich?

Markus P. Beham

ist Habilitand an der Universität Passau am Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Völkerrecht, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht bei Prof. Dr. Hans-Georg Dederer und lehrt am Institut für Europarecht, Internationales Recht und Rechtsvergleichung der Universität Wien.

Berthold Hofbauer

ist Rechtsanwalt und Partner bei Heid & Partner Rechtsanwälte. Seine Spezialgebiete sind das Vergaberecht, das Nachhaltigkeitsrecht (Schwerpunkt: Green Public Procurement) und die Vergabe-Compliance. Weiters ist er Herausgeber der Zeitschrift für Nachhaltigkeitsrecht (NR).

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