Der VersVG-Kommentar – Seismograf und Impulsgeber im Versicherungsrecht

Im Interview: Attila Fenyves,
Stefan Perner und Andreas Riedler

November 2021

Unter neuer Herausgeberschaft wurde der Kommentar zum VersVG in kurzer Zeit neu konzipiert, überarbeitet und in weiten Teilen aktualisiert. Attila Fenyves, Stefan Perner und Andreas Riedler über den Vorteil eines Faszikelwerks, seine Relevanz für die Versicherungswirtschaft und den Reformbedarf des Versicherungsvertragsgesetzes.

Interview: Roman Tronner

Fotos © Walter Skokanitsch

Der VersVG-Kommentar ist eine sehr umfangreiche, dreibändige Faszikelsammlung. Wie beurteilen Sie seine Relevanz und Besonderheit?

Attila Fenyves: Vorweg: Es ist ein wissenschaftlicher Großkommentar, der erste Kommentar überhaupt im österreichischen Rechtsbestand. Er richtet sich in erster Linie an jene, die professionell mit Versicherungsrecht zu tun haben: an Anwälte, Makler und Leute in der Versicherungswirtschaft und die Judikatur. Aber er ist so konzipiert, dass auch der juristische Laie daraus Gewinn ziehen kann. Man könnte es so formulieren: Wir sprechen die Wissenschaft an, aber auch die Praktiker*innen. Sobald jemand tiefer ins Problem eindringen will, muss man in solche Kommentare hineingehen. Auch Versicherungsberater*innen und -makler*innen sollten sich diesen Kommentar beschaffen.

Stefan Perner: Weil die Ausstattung als Faszikelwerk angesprochen ist: Ich finde es wichtig, dass wir dadurch sehr schlagkräftig sind, weil wir nicht den ganzen Kommentar neu auflegen müssen, sondern auf aktuelle Änderungen, sei es in der Gesetzgebung oder in der Judikatur, reagieren können. Dadurch sind wir immer aktuell.

Andreas Riedler: 51 Milliarden versicherte Risiken mit einem Prämienaufkommen von rund 18 Milliarden Euro im Jahr 2020 belegen die gesellschaftspolitische und volkswirtschaftliche Bedeutung der Versicherungswirtschaft. Den Rechtsrahmen dafür gibt das VersVG vor, das im VersVG-Großkommentar in all seinen praktischen Auswirkungen umfassend dargestellt wird – damit liegt die praktische Relevanz und Besonderheit des Großkommentars auf der Hand.

Ist der Kommentar auch für die Praxis des Vertragsabschlusses relevant?

Riedler: Unbedingt. Versicherungsverträge sind ja komplizierte juristische Vertragskonstrukte, die in der Praxis in der Regel von Nichtjurist*innen an Nichtjurist*innen verkauft werden, wobei sich im späteren Schadensfall dann die juristische Frage nach der Deckungspflicht des Versicherers stellt. Da ist umfassende Aufarbeitung der bisher ergangenen Judikatur und auch Literaturmeinungen unabdingbar. Das gilt sowohl für die Praktiker*innen im Vertrieb, Versicherungsmakler*innen und -vermittler*innen, aber auch erst recht für die Schadensabteilungen in den Versicherungsunternehmen und natürlich auch für die Polizzierungsabteilungen, wenn es um den konkreten Deckungsumfang in den bestehenden Verträgen geht, oder darum geht, diesen proaktiv transparent gegenüber dem Kunden zu transportieren.

Fenyves: Es gibt einen amerikanischen Leitsatz: Am Anfang gibt es immer zu wenig Juristen, und dann zu viele. Je gründlicher man sich vorweg informiert, desto sicherer ist man in der Abwicklung und wird nicht unangenehm überrascht. In der Versicherungswirtschaft ist festzustellen, dass manche mehr oder minder nach dem Motto „Augen-zu-und-durch“ agieren. Und dann unangenehm überrascht zum Beispiel Verbandsklagen riskieren, bei denen man von vornherein weiß, die können nur gegen die Versicherungswirtschaft ausgehen. Solche Situationen hätten oft mit relativ wenig Aufwand vorweg vermieden werden können.

Der erste Kommentar überhaupt im österreichischen Rechts­bestand richtet sich an jene, die professionell mit Versicherungsrecht zu tun haben. Auch der juristische Laie.

Riedler: Die angesprochenen Verbandsklagen spielen in der Praxis eine außerordentlich große Rolle – nicht nur, aber auch in Versicherungsverträgen. Gerade dort wird der Vertragsinhalt, also der konkrete Deckungsumfang durch Allgemeine Versicherungsbedingungen näher determiniert und verklausuliert ausgestaltet. Alle diese Vertragsklauseln und Allgemeinen Geschäftsbedingungen unterliegen allerdings auch einer gerichtlichen Nachkontrolle und können bei Verstoß gegen gesetzliche Klauselkontrollbestimmungen auch unwirksam sein. In den letzten Jahrzehnten ist eine Flut an Verbandsklagen in verschiedensten Branchen zu beobachten – bei Kreditverträgen geht es um die Umschreibung des Effektiv- oder auch des Verzugszinssatzes, bei Leasingverträgen um die Wirksamkeit von Werkstattklauseln, bei Flugtickets geht es um die Zulässigkeit von Check-in-Gebühren etc. Diese Klauselkontrolljudikatur trifft immer mehr auch die Versicherungswirtschaft – bei der Ausgestaltung des Deckungsumfanges, der laufenden Betreuung des Vertragsbestandes, der Abwicklung von Schadensfällen etc. Deshalb ist es wichtig, sich einen Überblick zu verschaffen, welche Klauseln bisher vom OGH einer Kontrolle unterzogen wurden, welche Klauseln unwirksam sind – oder eben wirksam sind und somit den künftigen Verträgen und bei der Produktentwicklung bedenkenlos zugrunde gelegt werden können.

 

Was ist aus Ihrer Sicht das Alleinstellungsmerkmal Ihres Kommentars?

Perner: Der Kommentar ist der einzige und damit das Original. Wir sind nicht nur aktuell, wir sind auch umfassend, damit die erste Adresse. Als Erste haben wir die besten Leute und versuchen mit ihnen das Werk weiterzuentwickeln.

Der Umfang liegt an der Ausrichtung als Großkommentar. Wir müssen auf der einen Seite systematisch sein, aber auf der anderen Seite bei den konkreten Sachproblemen dann in die Tiefe gehen. Und das erfordert die insgesamt rund 3000 Seiten.

Fenyves: Wir haben innerhalb von eineinhalb Jahren ca 2500 Seiten davon fertiggestellt. Das ist schon bemerkenswert. Und wir werden laufend aktualisieren. Das ist der Vorteil der Faszikel-Variante. Über die Ausfertigung haben wir anfangs heftig diskutiert, aber aus heutiger Sicht muss ich sagen: Die Entscheidung für die Faszikel war richtig, weil sie praktikabler ist.

Riedler: Noch kurz zur Einzigartigkeit: Aus meiner Sicht macht unseren Kommentar Folgendes besonders einzigartig: ein hervorragender Mix bei den Autor*innen. Wir haben hochkarätige Vertreter*innen aus der Justiz. Wir haben hochkarätige Praktiker*innen aus der Anwaltei, wir haben praxiserfahrene und ausgezeichnete Autor*innen aus der Versicherungswirtschaft und natürlich auch durch hervorragende Publikationen bereits im Versicherungsrecht ausgewiesene Wissenschafter*innen für die Mitarbeit gewinnen können. Diese ausgewogene Mischung aus Praxis, Wissenschaft und Rechtsprechung ist das ganz Besondere an unserem Großkommentar.

Perner: Dazu kommt, dass wir als Herausgeber an verschiedenen Institutionen arbeiten. Dadurch können wir Ausgewogenheit und einen idealen Mix der Autor*innen gewährleisten.

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Wie hat sich die neue Herausgeberkonstellation auf die Zusammensetzung der Autor*innen ausgewirkt?

Fenyves: Wir haben mit Perner und Riedler zwei Herausgeber gewinnen können, die beide im Feld Versicherungsvertragsrecht exquisit ausgewiesen sind und ihre gesamte Arbeitskraft hineinlegen können. Die Unterstützung ihrer beider Lehrkanzeln hat massiv dazu beigetragen hat, dass das Werk so schnell aktualisiert werden konnte. Und natürlich haben wir hervorragende Praktiker*innen aus der Justiz, der Versicherungswirtschaft und so weiter. Unsere Aufgabe als Herausgeber ist, alle Beiträge mit wissenschaftlichem Blick auf das gleich hohe Niveau zu heben.

Perner: Wir, die beiden neuen Herausgeber haben über die Jahre viele Leute ausgebildet und Kontakte geknüpft. Daher haben wir neue frische Kräfte, die bestens ausgewiesen sind und verständlich schreiben können, dazugewonnen.

Wir haben noch stärker darauf geachtet, nicht nur Expert*innen des Versicherungsrechts zu gewinnen, sondern eben Autor*innen mit besonderer Expertise zu den jeweiligen Passagen: zum Beispiel einen führenden Anwalt im Bereich der Lebensversicherungen oder eben den führenden Experten zur Transportversicherung. Damit haben wir eine ideale Passung herbeigeführt. Das hat dem Werk sehr gut getan.

Fenyves: Herausheben möchte ich Senatspräsident Dr. Johann Höllwerth als höchst qualifizierten Richter sowie Rechtsanwalt Prof. Dr. Peter Csoklich für den Bereich Transportversicherung, ein ausgewiesener Experte, von dem ich zunächst gar nicht glaubte, ihn gewinnen zu können.

Riedler: Und man könnte auch RA Dr. Peter Konwitschka, RA Dr.
Michael Kraus, RA Dr. Martin Steinbüchler, Dr.in Stephanie Fischer,
assoz. Univ.-Prof. Dr. Thomas Aigner, Dr.in Petra Leupold und zahlreiche weitere ganz hochkarätige ausgewiesene Autor*innen anführen. Wir sind ja mit dem Anspruch angetreten, den Kommentar in eine neue Generation zu führen. Und diese neue Generation spiegelt sich auch in den neu gewonnenen Autor*innen wider.

 

Was sind die inhaltlichen Schwerpunkte der aktuellen achten und kommenden neunten und zehnten Lieferung?

Fenyves: Die entsprechenden Passagen zu Lebensversicherung und Krankenversicherung wurden aktualisiert und auf den neuesten Stand gebracht. Und das bedeutet einerseits – da legen wir Wert darauf – eine vollständige Einarbeitung der Literatur, andererseits die Einarbeitung der wesentlichen OGH-Entscheidungen. Die neunte und zehnte Lieferung werden Anfang 2022 erscheinen. Damit werden wir das Gesamtwerk beenden.

Wir sind mit dem Anspruch angetreten, den Kommentar in eine neue Generation zu führen. Sie spiegelt sich auch in den neu gewonnenen Autor*innen wider.

Riedler: In der achten Lieferung haben wir vor allem die neue Rechtslage nach COVID-19 dargelegt. In der neunten Lieferung werden so wichtige Fragen wie die vertraglichen Obliegenheiten vom Kollegen Fenyves umfassend aufbereitet, ein extrem praxisrelevantes und für die Versicherungswirtschaft wichtiges Thema. Und in der 10. abschließenden Lieferung kommen dann etwa so wichtige Themen wie die vorvertraglichen Anzeigepflichten, die nicht nur, aber auch in der Krankenversicherung eine ganz große Rolle spielen.

Perner: Es muss nicht jedes Faszikel gleich oft und im gleichen Zeitraum aktualisiert werden. In manchen Bereichen passiert mehr, in manchen passiert weniger. Wichtig ist uns, dass wir immer am Puls der Zeit und immer aktuell sind.

 

Gibt es Reform- bzw Reparaturbedarf des VersVG? Was sehen Sie da bereits am Horizont?

Riedler: In Österreich gilt noch immer das 1959 bloß wiederverlautbarte deutsche VersVG 1908 idF 1939, das nur durch einige kleinere Novellen geändert wurde. Der deutsche Gesetzgeber hat den Bedarf nach einer umfassenden Überarbeitung und Modernisierung des dVersVG schon vor über 15 Jahren erkannt und im Jahr 2008 ein nahezu ganz neues VersVG in Kraft gesetzt, das an die Anforderungen der modernen Versicherungswirtschaft, der Digitalisierung und insbesondere auch des notwendigen Kundenschutzes herangeführt wurde, wobei es nicht um die Verschlankung der gesetzlichen Grundlagen ging. Eine solche Vorgangsweise würde sich wohl auch für das österreichische VersVG empfehlen.

Wir hätten daher eigentlich in Österreich die klare Handlungsanleitung für die Beurteilung der Frage, in welchen Bereichen Handlungsbedarf besteht und wie die Lösungsmöglichkeiten aussehen könnten, die jetzt schon in Deutschland zwischen allen Interessenvertretern und letztlich realpolitisch akkordiert wurden. Ob sich diese Frage auch in Österreich durchsetzen wird, ist eine Frage der realpolitischen Gegebenheiten. Aus wissenschaftlich dogmatischer Sicht wäre eine Überarbeitung des österreichischen VersVG in Anlehnung an die in Deutschland gefundenen Lösungsmöglichkeiten aus meiner Sicht durchaus zu überlegen.

Fenyves: Dass Deutschland ein neues Gesetz geschaffen hat, weiß unser Gesetzgeber natürlich. Und es hat auch Bestrebungen gegeben, in Österreich das VersVG grundlegend zu modifizieren. Ich sehe das am Horizont aber offen gestanden noch nicht. Der Gesetzgeber ist jetzt noch erschöpft von der Reparatur der Rücktrittsrechte. Die Versicherungen wehren sich sicher vehement dagegen, dass ein ganz neues Gesetz geschaffen wird, man betrachte nur deren Widerstand gegen die Reform des Schadenersatzrechts. Ehrlich, ich glaube nicht, dass in den nächsten Jahren irgendetwas Grundlegendes passiert, geschweige denn ein neues VersVG. Wenn ein Problem auftaucht, wird es höchstens partielle Änderungen geben.

Vieles, was vielleicht einmal in eine Reform mündet, wird schon im Kommentar angesprochen. Wir als Herausgeber sehen uns da als Seismograf für gesetzgeberische Änderungen.

Perner: Mit dem Kommentar nehmen wir da eine wichtige Rolle ein, weil wir uns natürlich als Teil des Dialogs zwischen der Gesetzgebung und der Versicherungswirtschaft und Versicherungswissenschaft sehen. Vieles, was vielleicht einmal in eine Reform mündet, wird schon im Kommentar angesprochen. Wir als Herausgeber sehen uns da als Seismograf für gesetzgeberische Änderungen.

 

Sie haben den Kundenschutz bereits angesprochen. Dieser ist durch mehrere Richtlinien und Gesetze, ua die Solvency II-Richtlinie und die IDD stark aufgewertet worden. Gibt es da trotzdem noch Verbesserungsbedarf?

Riedler: Die IDD und ihre Umsetzung in Österreich hat zu einer wirklichen Verstärkung des Kundenschutzes in Bezug auf Information, Transparenz, Produktinformationsblätter, vorvertragliche Informationspflichten, Wünsche und Bedürfnisse etc geführt. Ein bisschen feilen könnte man noch am Thema Transparenz der Vertragsinhalte. Wie erwähnt: Versicherungsverträge sind juristisch komplizierte Konstrukte. Und da könnte man schon überlegen, ob man nicht auf die Verständlichkeit des gesamten Vertragsinhaltes noch mehr Wert legt. Das ist weniger eine Frage der gesetzlichen Vorgaben als vielmehr der praktischen Ausgestaltung der Verträge. Viele Versicherungsunternehmen arbeiten bereits daran, die Verständlichkeit ihrer Vertragsbedingungen zu erhöhen, sodass auch der durchschnittliche Konsument weiß, was er kauft. Diese Bestrebungen sollte man unbedingt unterstützen. Das ist unabhängig von einer Rechtsänderung möglich.

Fenyves: Gleichzeitig ist aber natürlich auch zu bedenken, dass das Bemühen nach einfacher Lesbarkeit und größerer Transparenz auch gewisse Grenzen hat, weil Versicherungsprodukte immer kompliziert sind. Vor Jahren hat man versucht, alle Allgemeinen Versicherungsbedingungen als Klipp-und-klar-Texte zu formulieren. Dann hat man gesehen, dass das nicht funktioniert, weil viel zu wenig geregelt worden und dadurch letztlich wieder Intransparenz entstanden ist. Es ist eine schwierige Gratwanderung zwischen der notwendigen Exaktheit und der leichten Verständlichkeit. Darüber stolpern die Versicherungen durchaus hin und wieder. Sie nehmen an, durchschnittlich verständige Versicherungsnehmer*innen verstehen das. Wenn der OGH zur gegenteiligen Ansicht kommt, ist dann rasch eine Klausel verboten.

Perner: Es ist eben ein Rechtsprodukt, das nicht ausprobiert werden kann. Erst im Schadensfall weiß man, ob es ein Versicherungsfall ist. Das zu formulieren, ist sehr schwierig. Deshalb haben die Vermittler*innen eine so große Bedeutung im Versicherungswesen. Es ist ein weiteres Argument für unseren Kommentar, weil wir auch bei dieser Übersetzung für den Vermittelnden, der damit arbeitet, mithelfen ebenso wie für Mitarbeitende in der Versicherung, die die Bedingungswerke erstellen und auch für die Judikatur, die das dann letztlich entscheiden muss.

Riedler: Versicherungsverträge sind komplexe juristische Vertragskonstrukte, welche als Versicherungsprodukte in aller Regel von Nichtjurist*innen an Nichtjurist*innen, also an die Versicherungskund*innen verkauft werden. Im Schadensfall stellt sich dann aber die juristische Frage nach der Deckungspflicht des Versicherers, die dann vom genauen Wortlaut des Vertrages, den vereinbarten AVB, den gesetzlichen Vorgaben und der Frage abhängt, ob der Versicherungsnehmer oder die Versicherungsnehmerin Verbraucher*in oder Unternehme*in ist. Klingt komplex – ist es auch. Die Auswirkungen für den VN sind enorm und teilweise existentiell: Wann ist Mountainbikefahren in der Unfallversicherung gedeckt, ab welchem Schwierigkeitsgrad der Strecke entfällt die Versicherung? Ist die behördlich verordnete Betriebsschließung wegen COVID-19 in der Betriebsunterbrechungsversicherung gedeckt? Deckt die private Haftpflichtversicherung auch Böswilligkeitsdelikte des 8-jährigen Kindes, welches mehrere Autos zerkratzt? Bei Dauerrabattrückforderungsklauseln hat der OGH mehrfach entschieden, welche Klauseln unzulässig sind, gleichzeitig ist aber weiter unklar, wie die Klauseln nun für die Zukunft ausgestaltet werden müssen, damit sie wirksam vereinbart werden können. Hier wäre manchmal auch ein Fingerzeig des OGH für die Zukunft durchaus hilfreich.

 

Das Versicherungsaufsichtsrecht berührt das VersVG vor allem mit Blick auf Informationspflichten für Versicherte, die Vermittlung und den Mindestinhalt von Verträgen. Gibt es seit der Solvency II-Richtlinie 2016 eine Überregulierung?

Fenyves: Es gibt den Kodex Versicherungsrecht. Früher war dieser überschaubar und hat das VersVG und das gesamte Aufsichtsrecht enthalten. Jetzt sind es zwei voluminöse Bände. Der zweite Band enthält nur noch Versicherungsaufsicht, ebenso der Großteil des ersten Bandes. Das heißt, infolge von Verordnungen und Richtlinien der EU sowie des mehrstufigen Lamfalussy-Verfahrens ist die Versicherungsaufsicht dermaßen explodiert im Volumen, dass es wirklich schwer vorstellbar ist, jemand durchschaut das zur Gänze. Der Aufwand ist, vorsichtig gesagt, mittlerweile schon zu hoch. Eine gewisse Rückdimensionierung würde durchaus gut tun.

 

Ist die Solvency II ausschlaggebend gewesen für diese Überregulierung?

Riedler: Gleichzeitig ist es aber natürlich schon zu begrüßen, wenn man gerade in diesem Bereich exakte gesetzliche Vorgaben macht, denn es geht um gesellschaftspolitisch und volkswirtschaftlich sensible Bereiche, sowohl in der Bankwirtschaft als auch in der Versicherungswirtschaft. Immerhin handelt es sich bei den Versicherungsverträgen häufig um Fragen der existenziellen Absicherung und der Überwälzung des Individualrisikos auf die Gesellschaft, das sonst ruinös sein kann – denken wir an die Feuer-, Sturm- oder Hagelversicherung – oder etwa an den Vertrieb von Finanzanlageanlageprodukte, die häufig auch zur Pensionsvorsorge dienen. Aber natürlich: Das Dickicht im Versicherungsrecht wird immer dichter. Umso wichtiger ist es, Licht ins Dickicht zu bringen – womit wir wieder bei unserem Großkommentar wären.

Perner: Noch um die Jahrtausendwende, jedenfalls vor dem EU-Beitritt, konnte man wahrscheinlich Versicherungsvertragsrecht behandeln, ohne viel ins Aufsichtsrecht schauen zu müssen. Das ist jetzt ganz anders. Die Grundprinzipien des Aufsichtsrechts und die Verzahnung mit dem Vertragsrecht muss man heute gewahr haben, sonst ist man im Vertragsrecht abgehängt. Das ist schon ein wesentlicher Punkt. Man kann das eigene Gebiet nicht mehr beurteilen, ohne auch mit dem anderen zu tun zu haben.

Wir wollen mit dem VersVG-Kommentar Impulse setzen: für die Versicherungswirtschaft zur Fortentwicklung ihrer Produkte, für den Gesetzgeber zur Fortentwickung und Modernisierung des Rechts, für die Versicherungsjudikatur zur Evaluierung und kritischen Reflexion der bisherigen und Fortentwicklung der künftigen Rechtsprechung.

Wie könnte das Dickicht der Regulierung gelichtet werden?

Perner: Auf der einen Seite ist das natürlich, wiewohl schwierig, eine Forderung an einen europäischen Gesetzgeber. Es ist ja grundsätzlich gut, dass die Gesetzesmaterie europaweit vereinheitlicht ist, was dazu geführt, dass die Versicherer nicht nur in Österreich, sondern überall anders in Europa auch unter ähnlichen Bedingungen anbieten können und umgekehrt, dass Kund*innen auch überall in Europa nachfragen können. Insgesamt führt das zu mehr Wettbewerb und sinkenden Preisen. An sich also eine positive Entwicklung. Die Überregulierung sollte natürlich auf europäischer Ebene zu einer Redimensionierung führen. Das zweite ist die jeweilige Aufsichtsbehörde, die damit umgehen muss. Da ist die österreichische Finanzmarktaufsicht ohnehin sehr mit Augenmaß dahinter und versucht, in den Dialog zu treten. Ich finde es gut, sich gegenüber Versicherer*innen nicht primär als Straf- und Kontrollbehörde zu sehen, sondern zu ermöglichen, dass die Versicherer*innen ihr Geschäft machen. Das ist ein erster wichtiger Schritt in der Umsetzung

 

Mit Blick auf OGH-Entscheidungen: Wo liegen denn gegenwärtig die besonders strittigen Versicherungsbereiche?

Fenyves: Pro Jahr gibt es durchschnittlich rund 70 Entscheidungen. Ihre Schwerpunkte haben sich massiv verschoben. Vor 10–20 Jahren sind sehr viele Entscheidungen zur Kfz-Haftpflichtversicherung ergangen. Heute passiert dazu praktisch nichts mehr. Es ist alles ausjudiziert. Jetzt gibt es neue Schwerpunkte, zum Beispiel die Rechtsschutzversicherung, eine sehr komplizierte Materie. Viele Entscheidungen betreffen auch die Unfallversicherung und die Betriebsunterbrechungsversicherung. Die Schwerpunkte haben sich aber nicht deswegen verschoben, weil das VersVG reformbedürftig wäre, sondern aufgrund der Auslegung von bestehenden oder neuen Klauseln. Oder aber es geht um ganz allgemeine Probleme wie die Versicherungsfalldefinition: Was ist der Verstoß und was ist das Ereignis in der Haftpflichtversicherung?

Riedler: Wobei das Versicherungsrecht und die Versicherungswirtschaft nicht nur von den Entscheidungen des versicherungsrechtlichen Spezialsenates des OGH betroffen sind, sondern häufig auch Entscheidungen anderer Senate in dieses Gebiet ausstrahlen. Denken wir an die Verbandsklagen, die Vertragsklauseln außer Kraft setzen, welche in anderen Branchen zum OGH getragen werden, etwa in Fitnessstudio-Verträgen oder Mobilfunk-Verträgen. Die dort ungültig erklärten Klauseln, etwa zu Zahlungsmodalitäten, Verzugszinsen etc können in „paralleler“ Ausgestaltung auch in Versicherungsverträgen enthalten sein, sodass die Judikaturlinie aus anderen Branchen auch Rückschlageffekte für Versicherungsverträge zeitigen kann. Die versicherungsrechtlichen Entscheidungen im engeren Sinne mögen nicht so viele sein, aber die Versicherungswirtschaft in Summe betrachtet, ist natürlich von diesen Verbandsklagen betroffen und da gibt es wirklich viele.

 

Könnte das Thema Cyber-Security-Versicherung ein nächstes Thema sein, das ausjudiziert werden muss?

Perner: Ja, Sie sehen es ganz richtig. Zunächst hat man die Entwicklung am Markt und das ist logischerweise eine Phase der Unsicherheit. Und wo sich Unsicherheit zeigt, wird letztlich der OGH entscheiden müssen. Bei Cyber-Versicherungsprodukten wird unter einem Schlagwort vieles verstanden. Auf der einen Seite ist nicht ganz klar, wo das Risiko wirklich liegt. Auf der anderen Seite ist bei manchen Produkten nicht ganz klar, wo der Mehrwert zu anderen klassischen Produkten besteht. Das wird sich auf der einen Seite auf die Klauseln auswirken, auf der anderen Seite bei den Gerichten mit Blick auf den Vertrieb zeigen.

Riedler: Speziell bei der Cyber-Versicherung muss man sagen: Wir haben ja dort keinerlei gesetzliche Vorgaben, es gibt keine produktspezifischen gesetzlichen Rahmenbedingungen, sodass die konkrete Ausgestaltung des Inhalts und des Umfangs der Deckung am konkreten Vertrag liegt. Umso mehr wird Transparenz gefordert und das gilt erst recht in Verbraucherversicherungsverträgen. Der OGH hat eine sehr strenge Judikatur zur Transparenzkontrolle entwickelt. Da ist also vieles im Fluss. In der Praxis ist das teilweise schon angekommen. Auf die Judikaturentwicklung im Bereich der Cyber-Versicherung müssen wir noch etwas warten.

Fenyves: Ein Bereich, der jetzt auch immer mehr in den Vordergrund rückt, ist die D&O-Versicherung, also die Manager-Haftpflichtversicherung, die sehr kompliziert ist, weil dort ein anderes Versicherungsfallprinzip kreiert wurde, das nicht besonders gut passt. Das betrifft natürlich eine relativ enge Adressdatengruppe, aber die ist wirtschaftlich recht kräftig, weswegen diese Themen sehr heftig diskutiert werden.

 

Laut einer aktuellen Ernst&Young-Studie werden immer noch acht von zehn Abschlüssen in Österreich über Versicherungsberater*innen getätigt. Online-Abschlüsse sind unter fünf Prozent des Volumens. Aber große Digitalplattformen wie Amazon drängen auf den Markt und beginnen mit dem Vertrieb. Gibt es da bereits rechtspolitischen Handlungsbedarf, um unerwünschte Entwicklungen abzufangen?

Riedler: Der digitale Versicherungsvertrieb unmittelbar durch die Versicherungswirtschaft wurde ja bereits 2018 in Umsetzung der IDD im VAG geregelt, sodass die rechtlichen Rahmenbedingungen eigentlich schon seit einigen Jahren am Tisch liegen. Die wirkliche Frage ist, ob und wann und in welchem Umfang der digitale Versicherungsvertrieb in der Praxis ankommt. Da haben wir in Österreich noch einen relativ geringen Prozentsatz an digital abgeschlossenen Verträgen. In anderen Ländern oder am US-amerikanischen Markt ist der Anteil der digitalen Vertragsabschlüsse, speziell auch im Versicherungsvertrag, massiv angewachsen – dies gilt insbesondere für die „Standardprodukte“ wie zB die Kfz-Haftpflichtversicherung, die Kaskoversicherung etc.

Fenyves: Ich sehe es als neuen Aspekt einer Problematik, die schon aufgetreten ist, als die Dienstleistungsfreiheit eingeführt wurde. Damals dachte man nach, was passiert, wenn alle bei englischen Versicherern Produkte zeichnen. Es hat sich gezeigt: Die Menschen möchten die persönliche Beratung. So ist es letztlich auch bei der Digitalisierung. Sicher gibt es dort ein Potenzial, wo es keine spezifische Zuschneidung auf den konkreten Versicherungsnehmer braucht, aber sobald es komplizierter wird, möchte man beraten werden. Tendenziell werden digitale Abschlüsse steigen, aber ob das jetzt geht das große Wachstumspotenzial ist, würde ich eher bezweifeln.

 

Wie ist die Digitalisierung aus Sicht der Aufsicht zu beurteilen?

Perner: Man muss zwei Fragen trennen. Eine Frage ist der digitale Vertrieb durch den Versicherer selbst. Ich glaube, dass das mittlerweile mit den Vorgaben in einem Rahmen läuft, der funktioniert und auch für die Aufsicht handhabbar ist. Vielleicht manchmal sogar einfacher handhabbar, was die Kontrolle von Abläufen betrifft, als bei einem Abschluss in Präsenz. Was den Vertrieb betrifft, gibt es auch Online-Plattformen. Durchblicker wäre das bekannteste österreichische Beispiel. Da stellt sich natürlich die von Andreas Riedler aufgeworfene Frage ganz besonders: Inwiefern kann ich eine solche komplexe Beratung bieten, wenn ich nur online verfügbar bin, also wenn der Makler mich nicht sieht, sondern nur unter Anführungszeichen online berät. Aber ich glaube, auch da liegt die Antwort dort, dass bei einfacheren Standardprodukten weniger Beratung nötig ist. Und bei komplexeren Produkten wird man dann vielleicht auch mehr Zeit aufwenden und vielleicht auch eher bereit sein, sich ins Versicherungsbüro zu begeben.

 

Ein weiterer globaler Trend ist Nachhaltigkeit auch bei Veranlagungen durch Versicherer. Was ist aus gesetzlicher Sicht zu beachten? Müssen zum Beispiel Informationspflichten angepasst werden?

Perner: Die gesetzlichen Vorgaben sind flexibel. Einerseits können diese Informationspflichten vom Versicherer selbst angepasst werden. Andererseits gibt es die gesetzliche Verpflichtung, transparent umfassend zu informieren. Selbstverständlich müsste ich über Aspekte der Nachhaltigkeit dann auch informieren und diese offen legen.

Fenyves: Wenn sich Ihre Frage darauf richtet, dass der Versicherer offenlegen muss, wie er seine Reserven anlegt: Das wäre Aufsichtsrechtliches, das müsste aber wahrscheinlich wieder auf Europaebene geregelt werden.

Riedler: Also ich sehe zwei Aspekte. Zum einen den aufsichtsrechtlichen Aspekt. Zum anderen werden auch Versicherungsfinanzprodukte zum Teil mit den Schlagwörtern Environmental Social Governance, Corporate Social Responsibility, Nachhaltigkeit bzw Sustainability etc betitelt. Die Begriffe sind aber per se nicht wirklich determiniert. Eine gesetzliche Vorgabe gibt es nicht. Umso wichtiger ist es, vertraglich klarzustellen und zu determinieren, was unter dieser vertraglich bedungenen Eigenschaft etwa einer nachhaltigen Anlagestrategie oder eines nachhaltigen Anlageproduktes zu verstehen ist. Da scheint mir ein großer Handlungsbedarf gegeben zu sein, und zwar sowohl für die Bankwirtschaft als auch analog für die Versicherungswirtschaft.

 

Abschließend, Stichwort Digitalisierung: Ist für Sie vorstellbar, einen Kommentar wie Ihren zum VersVG rein digital aufzulegen?

Perner: Der VersVG Kommentar ist ja auch digital verfügbar, das heißt, wenn jemand im Büro am Computer arbeiten möchte, dann findet er uns dort. Aber wenn jemand im Zug sitzt und mit instabiler Internetverbindung arbeiten muss, dann hilft es ihm vielleicht, dass ein Faszikel analog verfügbar ist. Die Kombination macht es sicher.

Riedler: Sie sprechen mir aus der Seele, aber ich glaube, die Kombination zwischen Printmedium einerseits und digitaler Zurverfügungstellung mit Vorteilen wie Stichwortsuche umfassend über den gesamten Text etc, ist eigentlich die ideale Kombination für die Praxis. Dann kann jeder Benutzer, jede Benutzerin selbst entscheiden, wo, wann und in welchem Medium er oder sie den Großkommentar nutzt. Die Kombination Print und Digital hat sich schon bisher sehr bewährt und sollte daher auch in Zukunft beibehalten werden.

Fenyves: Ich gehe davon aus, dass eine rein digitale Version nicht gut ankommen würde. Es gibt immer noch viele Leute, die das Buch bevorzugen, darin blättern und es sich dann kopieren möchten. Das ist bei reinen Online Kommentaren aufwändiger. Es hat also wirklich Vorteile, wenn man das Buch vor sich sieht, haptisch blättern kann. Daher ist die Kombination das Ideale.

o. Univ.-Prof. Dr. Attila Fenyves
war vor seiner Emeritierung viele Jahre Vorstand des Instituts für Zivilrecht der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

Univ.-Prof. Dr. Stefan Perner
ist Universitätsprofessor für Zivil- und Unternehmensrecht und steht dem Institut für Zivil- und Zivilverfahrensrecht der Wirtschaftsuniversität Wien vor.

Univ.-Prof. Mag. Dr. Andreas Riedler
ist Universitätsprofessor für Zivilrecht, Vorstand des Instituts für Multimediale Linzer Rechtsstudien, Vorstandsmitglied des Instituts für Versicherungswirtschaft, stv. Vorstand des Instituts für Zivilrecht und Leiter der Abteilung für Europäisches Privatrecht und Versicherungsrecht der Johannes Kepler Universität Linz.