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Zeitschrift für öffentliches Recht

Heft 2, Juni 2020, Band 75

Merten , Detlef

Siegermacht und Selbstbestimmungsrecht der VölkerVictorious Power and the Peoples’ Right to Self-Determination

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Die Habsburgischen und die deutschen Länder waren jahrhundertelang unter dem Dach des Heiligen Römischen Reiches, seit Ende des 15. Jahrhunderts mit dem Zusatz „Deutscher Nation“ trotz mancher Gegensätze verbunden, wobei die Habsburger seit 1440 die römisch-deutschen Könige und die Kaiser des Reichs mit zwei Ausnahmen im 18. Jahrhundert stellen. Als das Alte Reich infolge der Kriegsmanie Napoleons 1806 sein Ende findet, schließen sich die souveränen Fürsten und freien Städte Deutschlands einschließlich des Kaisers von Österreich und der Könige Preußens, Dänemarks und der Niederlande – jeweils nur mit ihren zum Alten Reich gehörenden Gebieten – 1815 in einem „Deutschen Bund“ zusammen, in dessen „Engerem Rat“ Österreich den Vorsitz führt. Nach dem Scheitern der Frankfurter Nationalversammlung, die Grundrechte, aber keinen Staat hervorbringt, bestehen in Preußen wie in Österreich Pläne zu einer Vereinigung in einem „großen Gesamtvaterlande“ um der „Einheit Deutschlands“ willen. Allerdings scheitert dieses Vorhaben zum einen aus Rücksicht auf die vielen nichtdeutschen Länder des Kaisertums Österreich und zum anderen an dem zu erwartenden Widerstand der übrigen europäischen Großmächte. In dieser Situation sieht Bismarck auf dem Wege zu einem einigen Deutschland keine andere Lösung als die eines deutsch-deutschen Krieges, den er beginnt, aber in kluger Voraussicht mit einem moderaten Frieden beendet. So kann das seit 1871 bestehende Deutsche Reich mit Österreich-Ungarn 1879 einen Zweibund schließen, der 1882 zu einem Dreibund durch den Beitritt Italiens wird, das allerdings „Bündnistreue“ nicht italienisieren kann. Dieses Bündnis wird aktiviert, als nach dem Attentat von Sarajewo Serbien ein schroffes Ultimatum Österreich-Ungarns nicht in allen Punkten akzeptiert und Kaiser Franz Joseph am 28.07.1914 Serbien den Krieg erklärt, der sich ungeachtet aller Vermittlungsversuche schnell zu einem europäischen und schließlich zu einem Weltkrieg ausweitet, den letztlich keiner der Beteiligten gewollt hat. Deutschland steht in Bundestreue, die allerdings militärisch eher bescheiden ist, zu Österreich-Ungarn, wobei beide Kaiser einen europäischen Großbrand vermeiden wollten.

Durch den unsauberen Seitenwechsel Italiens 1915 ist Österreich-Ungarn unerwartet in einen Zwei-Fronten-Krieg geraten, den auch Deutschland gegen Frankreich und Russland nicht gewinnen kann, zumal seine Bevölkerung durch die britische Seeblockade ausgehungert wird. Der als Gegenmaßnahme infolge unkluger militärischer Beratung angeordnete uneingeschränkte U-Boot-Krieg Anfang 1917 muss angesichts ziviler amerikanischer Opfer zu einem Kriegseintritt des Heimatstaates wenige Monate später führen. Am Ende bleibt den Mittelmächten nur das Ersuchen um Waffenstillstand und Friedensverhandlungen unter Berücksichtigung des von Präsident Wilson messianisch verheißenen Selbstbestimmungsrechts der Völker und des Ausschlusses von Geheimverhandlungen. Aber gerade diese werden von den Siegern monatelang genutzt, um den Besiegten einen Clemenceau- und keinen Wilson-Frieden aufzuzwingen. Dieser ist jedoch so hart und unerfüllbar, dass der Nationalökonom Keynes als Mitglied der britischen Delegation Paris verlässt und der amerikanische Kongress sowohl den Vertrag von Saint-Germain als auch den von Versailles ablehnt, weshalb später mit den Mittelmächten gesonderte Verträge zustande kommen.

Schmerzlich sind für beide Staaten die Gebietsverluste, die von dem einstigen Österreich-Ungarn nur noch ein Deutschösterreich belassen, das sich in seiner damaligen Situation mit dem Deutschen Reich vereinen will. Dem steht jedoch das in beiden Verträgen verankerte Anschlussverbot entgegen, das die Sieger noch durch ein Verbot der Bezeichnung „Deutschösterreich“ und für Deutschland durch einen Eingriff in eine Verfassungsklausel verschärfen, die eine Regelung für den Fall eines Anschlusses trifft. Auf diese evidente Missachtung des Selbstbestimmungsrechts hat schon Hans Kelsen mit Bitterkeit hingewiesen.

Narben hinterlassen die übermäßigen Gebietsabtretungen, die auch Teile mit deutscher Bevölkerung betreffen. Auf besondere Verbitterung stößt die „Verschacherung“ Südtirols an Italien als Prämie für dessen Bündnisbruch, zumal dieses Gebiet deutschsprachig ist und in Kultur und Geschichte keine Gemeinsamkeiten mit Italien aufweist. Mit diesem Verhalten setzt sich Wilson in Widerspruch zu seinen Friedensversprechen, die er als Kriegführender zehn Monate nach Kriegsbeginn abgegeben hat. Danach sollten „Völker und Provinzen nicht von einer Staatshoheit zur anderen verschachert“ und Gebietsfragen „im Interesse und zugunsten der beteiligten Bevölkerungen“ gelöst werden. Wenn auch Annexionen nach damaligem Völkerrecht nicht verboten waren, genießen doch seit dem Westfälischen Frieden alle Staaten gleichermaßen äußere Souveränität, die jedenfalls eine erzwungene neue gesamteuropäische Gebietsverteilung, wie sie die Pariser Vororte-Verträge vorsehen, ausschließt.

Sicherlich ist Staatengleichheit bei Friedensverhandlungen in der Regel nicht gegeben, aber schon der Begriff des Vertrags stellt klar, dass er durch für beide Parteien verträgliche Regelungen und nicht durch einseitiges Diktat einer Siegermacht zustande kommt. Gewaltfrieden sind keine Rechtsfrieden, und dieser Makel haftet den Verträgen von Saint-Germain und Versailles an.

  • Merten , Detlef
  • Art 331 Versailler Vertrag
  • Deutsch-Österreich
  • Anschlussverbot
  • § 2 Reichsverfassung für das Kaiserthum Österreich vom 04.03.1849
  • Abschnitt I Bill of Rights von Virginia von 1776
  • Art IV Massachusetts Declaration of Rights von 1780
  • Selbstbestimmungsrecht
  • Habsburger
  • ZOER 2020, 317
  • Art 333 Versailler Vertrag
  • Deutscher Bund
  • Öffentliches Recht
  • A. Nr 1 Verfassung von Pennsylvanien von 1776
  • Art 4 französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789
  • Art 1 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 1966
  • § 83 (Einleitung) Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten von 1794
  • Art 15 österreichisches Staatsgrundgesetz
  • Pariser Vororte-Verträge
  • Art 1 und 5 Staatsgrundgesetz über die Ausübung der Regierungs- und Vollzugsgewalt vom 21.12.1867
  • Art III Dreibund-Vertrag zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien vom 20.05.1882
  • Art 137 Abs 3 Weimarer Reichsverfassung
  • Art 6 EU-Grundrechtecharta
  • Art 1 Schlussakte der Wiener Ministerkonferenz vom 15.05.1820
  • Art 4 Abs 1 Versailler Vertrag
  • §§ 2ff und 8ff Beschluss der Provisorischen Nationalversammlung „über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt“
  • Art 332 Versailler Vertrag
  • Friedensvertrag
  • Art 70 Abs 1 B-VG
  • Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation
  • Art 1 Nr 2 und Art 55 UN-Charta
  • §§ 16f österreichisches Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch für die gesammten Deutschen Erbländer von 1811
  • § 36 Satz 1 Haager Landkriegsordnung von 1907
  • §§ 1 und 2 Gesetz zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen vom 18.12.1919
  • Art II Allianzvertrag zwischen Rußland, Österreich und Preußen vom 26.09.1815
  • Art 1f GG
  • Art 1 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte 1966
  • Römisch-Deutsches Reich
  • Art 1, 2 und 9 Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich
  • Art 8, Art 10, Art 291 ff und Art 381 Absatz 5 Vertrag von Saint-Germain
  • Mittelmächte
  • Erster Weltkrieg
  • Alleinschuld-These
  • Entente
  • Völkerselbstbestimmung
  • Art 1 Verfassung von Massachusetts von 1780
  • Art 5 Abs 1 Versailler Vertrag
  • Art 5 Europäische Menschenrechtskonvention