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Journal für Strafrecht

Heft 4, Juli 2016, Band 2016

Nimmervoll, Rainer

Zum Begriff der strafprozessualen „Wahrheit“

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Dem Richter ist nicht die Pflicht auferlegt, die absolute Wahrheit zu finden. Denn ein absolut sicheres Wissen, demgegenüber das Vorliegen eines gegenteiligen Tatbestandes absolut ausgeschlossen wäre, ist der menschlichen Erkenntnis bei ihrer Unvollkommenheit überhaupt verschlossen. Wollte man eine Sicherheit so hohen Grades verlangen, so wäre eine Rechtsprechung so gut wie unmöglich. Wie im allgemeinen Verkehr muss sich also auch der Richter mit einem so hohen Grad von Wahrscheinlichkeit begnügen, wie er bei möglichst erschöpfender und gewissenhafter Anwendung der vorhandenen Mittel der Erkenntnis entsteht. Ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit gilt als Wahrheit, und das Bewusstsein des Erkennenden von dem Vorliegen einer so ermittelten hohen Wahrscheinlichkeit als die Überzeugung von der Wahrheit.

Gem § 3 Abs 1 StPO haben Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft und Gericht die Wahrheit zu erforschen und alle Tatsachen aufzuklären, die für die Beurteilung der Tat und des Beschuldigten von Bedeutung sind. § 232 Abs 2 StPO verpflichtet den Vorsitzenden in der Hauptverhandlung, die Ermittlung der Wahrheit zu fördern. Um dem gerecht zu werden, ist er ermächtigt, auch und insb ohne Antrag der Beteiligten des Verfahrens Zeugen und Sachverständige, von denen nach dem Gange der Verhandlung Aufklärung über erhebliche Tatsachen zu erwarten ist, im Laufe des Verfahrens vorladen und nötigenfalls vorführen zu lassen und zu vernehmen (§ 254 Abs 1 StPO); er kann auch neue Sachverständige bestellen oder die Aufnahme anderer Beweise anordnen, insb einen Augenschein in Anwesenheit der Beteiligten des Verfahrens durchführen (§ 254 Abs 2 StPO).

Die daraus ableitbare Pflicht zur Erforschung der sog materiellen Wahrheit ist natürlich nicht Selbstzweck, sondern mündet letztlich – als Ergebnis der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 14, § 258 Abs 2 StPO; vgl dazu auch § 240a Abs 1 bzw § 305 Abs 1 StPO) – in die gerichtliche Feststellung der sog erwiesenen Tatsachen in den Entscheidungsgründen des Urteils (§ 270 Abs 2 Z 5 StPO). Ab wann solcherart Tatsachen als erwiesen zu betrachten sind, wird in der Praxis mitunter zu streng gesehen: Während im Gerichtsalltag unreflektiert meist das Vorliegen einer „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ verlangt wird, genügt der hRspr hingegen insoweit bereits eine „hohe Wahrscheinlichkeit“: Die Beweiswürdigung des Strafgerichts ist durch keine gesetzlichen Regeln beschränkt (§ 258 Abs 2 StPO), sondern ist über die Frage, ob eine Tatsache als erwiesen anzunehmen sei, von den Richtern nur nach ihrer freien, aus der gewissenhaften Prüfung aller für und wider vorgebrachten Beweismitteln gewonnenen Überzeugung zu entscheiden. Die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens binden die gerichtliche Wahrheitsfindung lediglich an die Erfahrungssätze und an die Beobachtung der Denkgesetze. Diese Grenzen lassen eine mathematisch-exakte Beweisführung vor Gericht nur dort zu, wo ein Beweisobjekt der Untersuchung mit den Methoden einer Naturwissenschaft oder unmittelbar einer mathematischen Zergliederung (etwa Berechnungen und Konstruktionspläne) zugänglich ist; ansonst muss dem Richter ein empirisch-historischer Beweis genügen. Im gedanklichen Bereich der Empirie vermag aber eine höchste, auch eine (nur) hohe Wahrscheinlichkeit die Überzeugung von der Richtigkeit der wahrscheinlichen Tatsache zu begründen, jene Überzeugung, die ihrerseits zufolge § 258 Abs 2 StPO die ausschließliche Grundlage der richterlichen Tatsachenentscheidung sein darf.

Dem folgend muss eine Urteilsbegründung nicht auf logisch zwingenden Ableitungen beruhen. Auch in freier Beweiswürdigung gezogene Wahrscheinlichkeitsschlüsse sind zur Begründung von Tatsachenfeststellungen geeignet, sofern nur der solcherart getroffenen Konstatierung die richterliche Überzeugung von der Richtigkeit der „wahrscheinlichen“ Tatsache im Sinn des § 258 Abs 2 StPO zugrunde liegt; eine Beschränkung auf geradezu zwingende Beweise wäre mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht vereinbar. Das Gericht ist in seiner Beweiswürdigung also berechtigt (§ 258 Abs 2 StPO), nicht nur „zwingende“ Schlüsse, sondern auch Wahrscheinlichkeitsschlüsse zu Tatsachenfeststellungen zu ziehen, welche, wenn sie logisch, somit vertretbar sind, als Ergebnis freier richterlicher Beweiswürdigung mit Nichtigkeitsbeschwerde unanfechtbar sind. Solcherart ist für einen Schuldspruch bloß die Überzeugung des Gerichts auf Grund möglicher Schlussfolgerung, nicht aber ein „eindeutiger und zwingender Schluss“ nötig. Dass die vom Gericht aus den von ihm getroffenen Feststellungen gezogenen Schlussfolgerungen denkgesetzlich die einzig möglichen wären, wird vom Gesetz nämlich nicht gefordert.

All das brachte schon die eingangs zitierte Entscheidung vor mehr als 70 Jahren in brillanter Art und Weise pointiert zum Ausdruck und schloss den Bogen hin zum gesetzlichen Ausgangspunkt, nämlich der Verpflichtung der Strafverfolgungsbehörden, die (materielle) Wahrheit zu ermitteln.

  • Nimmervoll, Rainer
  • JST 2016, 388
  • Strafrecht- und Strafprozessrecht

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