Rechtsprechungsübersicht EGMR – Kurzinfo
- Originalsprache: Deutsch
- JSTBand 10
- Judikatur, 1342 Wörter
- Seiten 563 -564
- https://doi.org/10.33196/jst202306056301
20,00 €
inkl MwSt
Der Bf wurde wegen schweren Mordes zu einer Freiheitsstrafe von 25 Jahren verurteilt, da er im betrunkenen Zustand die Kleidung seines Trinkpartners in Brand gesetzt hatte und dieser an den Folgen der schweren Verbrennungen starb. Der Bf brachte vor, dass er nicht über sein Recht zu schweigen, sein Recht sich nicht selbst zu belasten und sein Recht auf einen Verteidiger belehrt worden sei. Darüber hinaus sei zum Zeitpunkt der informellen Befragung am nächsten Tag eine mögliche Restalkoholisierung des Bf nicht getestet worden, und es sei kein formelles Protokoll der Befragung angefertigt worden. Ein Polizeibeamter erstellte lediglich einen offiziellen Vermerk über die Aussagen des Bf. Der EGMR stellte fest, dass der Bf offenbar nicht über seine Rechte belehrt wurde, bevor er am Tag nach seiner Verhaftung informell befragt wurde, und eine etwaige Restalkoholisierung des Bf nicht getestet wurde. Der EGMR stellte ferner fest, dass der Bf zwischen seiner Verhaftung und seiner informellen Befragung keinen Kontakt zu einem Verteidiger hatte. Erst mehr als fünfzehn Stunden nach seiner Festnahme konsultierte der Bf einen Rechtsanwalt. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits über zwei Stunden informell von drei Polizeibeamten befragt worden. Der EGMR ist der Ansicht, dass die Praxis einer informellen Befragung nach einer Festnahme, die nicht den Garantien des Art 6 Abs 3 EMRK entspricht, den Festgenommenen von Beginn an in eine nachteilige Lage versetzt. Es sei bedenklich, dass die nationalen Gerichte dieses Vorgehen nicht nur billigten, sondern sich direkt auf Aussagen des Bf aus der informellen Befragung stützten und diese darüber hinaus als besonders glaubwürdig erachteten. Eine solche Argumentation verstoße gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens. Der Bf wurde in seinen Rechten nach Art 6 Abs 3 lit c EMRK verletzt.
Die Bf wurde im Alter von 15 Jahren Opfer häuslicher Gewalt durch ihren 23-jährigen Partner, bei dem sie lebte. Nach einem derartigen Vorfall begab sich die Bf in ein Krankenhaus, wo ein gerichtsmedizinischer Befund angefertigt wurde. Gemäß diesem Befund wurden die erlittenen Verletzungen durch Schläge und Stöße mit bzw auf harte, teils stumpfe, teils kantige Gegenstände verursacht und führten bei der Bf zu Schmerzen und Leid. Die Bf brachte vor, dass sie in ihren Rechten nach Art 3 EMRK verletzt wurde, da der Staat es verabsäumt habe, sie angemessen zu schützen. Zum einen sei der Schutz auf gesetzlicher Ebene unzureichend, da es sich bei dem Delikt der leichten Körperverletzung, welches konkret einschlägig war, um ein Privatanklagedelikt handelt, das nicht von Amts wegen verfolgt wird (anders als ein Offizialdelikt). Zum anderen sei die Staatsanwaltschaft ihren Beschwerden nicht angemessen nachgegangen. Bezüglich der relevanten Rechtsvorschriften wies der EGMR erneut darauf hin, dass eine private Strafverfolgung eine übermäßige Belastung für Opfer häuslicher Gewalt darstelle. Das 2019 in Kraft getretene Offizialdelikt der leichten Körperverletzung im Rahmen häuslicher Gewalt setze wiederholte Gewaltakte (mind drei) von gewisser Schwere und das Vorliegen einer de facto ehelichen Beziehung voraus, welche nur dann vorliege, wenn es sich um Erwachsene handelt, die seit mehr als zwei Jahren zusammenleben. Aufgrund dieser Erfordernisse sei laut EGMR zu befürchten, dass eine Reihe von Fällen häuslicher Gewalt von der öffentlichen Strafverfolgung – wie im vorliegenden Fall – ausgenommen sind. Ist lediglich das Delikt der leichten Körperverletzung als Privatanklagedelikt einschlägig, liege es im Ermessen des Staatsanwalts, von Amts wegen Ermittlungen einzuleiten, wenn sich das Opfer dazu nicht in der Lage sieht. Der EGMR war daher der Auffassung, dass die geltende Rechtslage keine angemessene Reaktion auf häusliche Gewalt zuließ, deren (zT minderjährige) Opfer selbst nicht im Stande sind, ein Gerichtsverfahren als Privatankläger anzustrengen und zu verfolgen. Die nationale Rechtsordnung entspreche damit nicht der positiven Verpflichtung, ein wirksames System zur Verfolgung aller Formen häuslicher Gewalt und zum ausreichenden Opferschutz einzurichten. In Bezug auf den konkreten Fall wies der EGMR erneut darauf hin, dass ein Staat dazu verpflichtet ist, wirksame Ermittlungen einzuleiten, wenn eine Person begründete Missbrauchsvorwürfe erhebt. Die Staatsanwaltschaft lehnte die Einleitung von Ermittlungen ab, obwohl das Sozialamt sie darüber informiert hatte, dass die minderjährige Bf wiederholt von ihrem Partner geschlagen worden sei. Der EGMR könne die Untätigkeit der Staatsanwaltschaft unter diesen Umständen nur als unzureichend ansehen. Der EGMR kam zu dem Ergebnis, dass eine Verletzung von Art 3 EMRK vorliegt. Darüber hinaus stellte der EGMR eine Verletzung von Art 14 EMRK iVm Art 3 EMRK fest, da die im vorliegenden Fall geprüften Rechtsvorschriften nicht geeignet waren, eine angemessene Reaktion auf häusliche Gewalt zu ermöglichen, deren Opfer mehrheitlich Frauen sind. Nach wie vor seien Frauen unverhältnismäßig stark von häuslicher Gewalt betroffen, und die nationalen Behörden hätten sich nicht angemessen und ausreichend mit dem Problem beschäftigt, so der EGMR.
Der Bf behauptete im Rahmen des gegen ihn gerichteten Strafverfahrens eine Verletzung des Art 6 Abs 1 EMRK aufgrund der Unparteilichkeit der Vorsitzenden der Richterbank der Berufungs- und Revisionsstrafkammer (CPAR) des Gerichtshofs des Kantons Genf, die über die Rechtmäßigkeit der ihn betreffenden Strafanklage entschieden hatte. Die Vorsitzende Richterin war bereits als Haftrichterin im Verfahren gegen den Bf zuständig. Nach Aufhebung der Anordnung zur Verlängerung der Sicherheitshaft wiederholte die Richterin in ihrer Stellungnahme vom 3.10.2017, dass es „genügend Beweise“ gebe, die darauf schließen ließen, dass die Verurteilung des Bf „wahrscheinlich“ sei und dass das Beweismaterial in der Strafakte „weiterhin für die Schuld des Beschwerdeführers spreche“. Der EGMR stellte fest, dass die Aussagen der Richterin zur Notwendigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft in einem Stadium getätigt wurden, als die Ermittlungen bereits abgeschlossen waren. Der EGMR war der Auffassung, dass diese Äußerungen über den Ausdruck eines bloßen Verdachts hinausgingen. Sie zeigten, dass der Grat zwischen der Beurteilung der Notwendigkeit der Verlängerung der Untersuchungshaft des Bf und der Feststellung seiner Schuld sehr schmal wurde. Daraus folge, dass der Bf berechtigterweise befürchten konnte, dass die Richterin eine vorgefasste Meinung über seine Schuld hatte, als sie einige Monate später als Vorsitzende der Berufungs- und Revisionsstrafkammer über seinen Fall mitentschied und ihn zu einer Freiheitsstrafe verurteilte. Die Befürchtungen des Bf, die Richterin wäre nicht unparteiisch, seien daher objektiv begründet. In der Konsequenz erfüllte die CPAR nicht die in Art 6 Abs 1 EMRK geforderte Unparteilichkeit, und es lag ein Verstoß gegen Art 6 Abs 1 EMRK vor.
Die Bf war zwischen 2003 und 2007 Bürgermeisterin der Gemeinde Valea Perjii. Im Jahr 2008 wurde sie wegen Machtmissbrauchs begangen durch eine „Person, die eine Position mit Verantwortung innehat“ angeklagt (Art 328 Abs 1 des Strafgesetzbuchs). Im Jahr 2011 änderte die Staatsanwaltschaft die Anklage und stufte die ihr vorgeworfenen Handlungen als Machtmissbrauch begangen durch eine „Person, die eine hochrangige Position mit Verantwortung innehat“ ein (Art 328 Abs 3 lit b des Strafgesetzbuchs), was mit einem erhöhten Strafmaß einherging. Im Dezember 2011 wurde Art 328 Abs 3 lit b des Strafgesetzbuchs dahingehend abgeändert, dass die Definition des Tatsubjekts „Person, die eine hochrangige Position mit Verantwortung innehat“ durch „öffentliche Würdenträger“ ersetzt wurde. Die Bf wurde in der Folge nach Art 328 Abs 3 lit b (neue Fassung) verurteilt. Der EGMR stellte zunächst fest, dass die nationalen Gerichte eine Bestimmung des Strafgesetzbuchs anwandten, die nach den fraglichen Ereignissen in Kraft getreten war. Der einzige Unterschied zwischen dem Wortlaut der neuen und der alten Fassung bestand in der Definition des Tatsubjekts. Zwischen den Parteien war unstrittig, dass die Bf als Bürgermeisterin jedenfalls von der älteren Definition umfasst war. Gemäß dem Berufungsgericht wären die neuere und die ältere Formulierung als gleichwertig anzusehen. Laut der Bf hingegen wäre die Definition „öffentliche Würdenträger“ nicht auf sie anwendbar, da diese nur Personen umfasse, die nach einem in der Verfassung geregelten Wahlverfahren gewählt wurden oder vom Parlament, vom Präsidenten oder der Regierung ins Amt berufen wurden. Der EGMR hielt fest, dass sich die nationalen Gerichte nicht ausreichend mit den Hintergründen der Gesetzesänderung und deren Tragweite auseinandergesetzt hätten. Die Frage des Tatsubjekts und dessen Auslegung seien für die Anwendung der Norm auf die Bf entscheidend und hätten einer besonderen Sorgfalt bedurft. Auch das nationale Höchstgericht legte die neue Definition des Tatsubjekts unterschiedlich aus, was zu weiteren Unsicherheiten geführt habe. Die Bf konnte somit nach dem Inkrafttreten der Novelle vernünftigerweise nicht vorhersehen, dass sie nach Art 328 Abs 3 lit b des Strafgesetzbuchs in der neuen Fassung verurteilt werden würde, und es lag eine Verletzung des Art 7 Abs 1 EMRK vor.
- Art 7 EMRK
- JST-Slg 2023/5
- EGMR, 23.05.2023, Nr 53891/20, A.E. ./. Bulgarien
- Art 6 Abs 1 EMRK
- Art 3 EMRK
- Strafrecht- und Strafprozessrecht
- EGMR, 11.05.2023, Nr 47834/19, Lalik ./. Polen
- EGMR, 04.07.2023, Nr 13451/15, Tristan ./. Moldau
- EGMR, 13.06.2023, Nr 22060/20, Sperisen ./. Schweiz
- Art 14 EMRK
- Art 6 Abs 3 lit c EMRK