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Journal für Strafrecht

Heft 6, Dezember 2023, Band 10

eJournal-Heft
  • ISSN Online: 2312-1920

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Inhalt der Ausgabe

S. 485 - 496, Aufsatz

Murschetz, Verena/​Fritz, Norbert

(Unbedingte) Entlassungen strafrechtlich Untergebrachter aufgrund der Reformen des Maßnahmenvollzugs? Das Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz 2022 und seine Änderungen durch die Novelle 2023

Das Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz 2022 ist als erster Teil der Reform der strafrechtlichen Unterbringung im März 2023 in Kraft getreten. Insb durch Einfügung einer absoluten Befristung der Maßnahme bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen und durch enger gefasste Einweisungskriterien sollte ein maßvollerer Umgang mit der Unterbringung erreicht werden. Aufgrund medial geübter Kritik entschied sich der Gesetzgeber aber bereits wenige Monate später für einseitige Nachschärfungen: Für die Gruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsen wurden gesonderte Übergangsbestimmungen geschaffen und die Höchstfrist der Maßnahme wieder aufgehoben. Der folgende Beitrag bespricht die neuen Einweisungsvoraussetzungen und untersucht die Auswirkungen, die die Reformen auf die Entlassung bereits strafrechtlich untergebrachter Personen haben bzw gehabt hätten. Dabei wird zwischen der Gruppe der zum Tatzeitpunkt Erwachsenen und der Gruppe der zum Tatzeitpunkt Jugendlichen und jungen Erwachsen unterschieden und insb die sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung der Gruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen aufgezeigt, zu der die einseitige Nachschärfung führt.

S. 497 - 507, Aufsatz

Mitgutsch, Ingrid

Haftbefehl gegen Vladimir Putin und Maria Lvova-Belova zugrunde liegenden Völkerrechtsdelikte

Die Vorverfahrenskammer des Internationalen Strafgerichtshofs hat einen Haftbefehl gegen Vladimir Putin und die russische Kinderrechtskommissarin Maria Lvova-Belova erlassen. Der Beitrag geht der Frage nach, wieso das Gericht nicht das auf den ersten Blick näher liegende Aggressionsdelikt als Rechtsgrundlage gewählt hat und schildert sodann die beiden der angestrebten Verhaftung zugrunde liegenden Kriegsverbrechen der unrechtmäßigen Deportation bzw Überstellung von Personen im internationalen bewaffneten Konflikt sowie deren Konkurrenzverhältnis.

S. 508 - 514, Aufsatz

Stuefer, Alexia

Das Grundrechtsbeschwerdegesetz – eine Analyse aus Anlass seines 30-jährigen Bestehens

Die Aufbruchsstimmung im parteiübergreifenden Gesetzwerdungsprozess ist 30 Jahre nach Inkrafttreten des Grundrechtsbeschwerdegesetzes nur in noch den parlamentarischen Materialien zu finden. In der gegenwärtigen Praxis spielt die Grundrechtsbeschwerde im erklärten Ziel der Reduktion der überdurchschnittlich hohen Anzahl an Untersuchungshäftlingen und der Dauer des jeweiligen Freiheitsentzuges keine Rolle. Die Anwendung des Grundrechtsbeschwerdegesetzes in der Praxis und die Debatten im Schrifttum liefern einen ernüchternden Befund über das Verhältnis zwischen Legislative und Gerichtsbarkeit.

S. 515 - 526, Aufsatz

Rösler, Lisa

Diversion im Suchtmittelrecht – Implikationen aus der Praxis

Das österreichische Strafrecht bietet ein Konglomerat von Vorschriften, die zu einem straflosen Verfahrensausgang führen können. Davon zeigt die Diversion als Alternative zur Anklage ihre praktische Relevanz insbesondere im Suchtmittelstrafrecht. Der vorliegende Beitrag erörtert zwei Ergebnisse einer an der Universität Wien durchgeführten dogmatischen als auch empirischen Untersuchung der Diversion im Suchtmittelrecht. Das erste Ergebnis betrifft die unterschiedliche Bedeutsamkeit der einzelnen Diversionsmaßnahmen im Suchtmittelrecht; das zweite Ergebnis die regionale Anwendungspraxis.

S. 527 - 529, Finanzstrafrecht Aktuell

Huber, Christian

Zur Zuständigkeitsabgrenzung innerhalb des Amtes für Betrugsbekämpfung und des Zollamts Österreich nach den jeweiligen Geschäftsverteilungen (Teil 2)

Dieser Beitrag setzt die Serie an Darstellungen der Zuständigkeitsabgrenzungen innerhalb des Amtes für Betrugsbekämpfung (ABB) einerseits und des Zollamtes Österreich (ZAÖ) andererseits fort, welche im Heft 2/2023 begonnen wurde. In diesem Teil wird ausschließlich auf Finanzvergehen eingegangen, welche sich noch vor dem 1.1.2021 ereignet haben, wobei insbesondere der diffizile Wechsel der Zuständigkeiten innerhalb eines laufenden Ermittlungsverfahrens dargestellt wird.

S. 530 - 537, Europastrafrecht Aktuell

Neusiedler, Manuel/​Schmollmüller, Lisa

Qualifiziert „unfaires“ Strafverfahren im Ausstellungsmitgliedstaat als Vollstreckungshindernis bei Europäischen Haftbefehlen

Der Europäische Gerichtshof hat wiederholt ausgesprochen, dass Europäische Haftbefehle nicht vollstreckt werden dürfen, wenn die betroffene Person im ausstellenden Mitgliedstaat ein qualifiziert unfaires Strafverfahren erwartet. Den vollstreckenden Mitgliedstaat trifft sohin eine Schutzpflicht in Bezug auf Grundrechtsverletzungen, die sich im EU-Ausland zu realisieren drohen. Damit hat der Gerichtshof Art 47 Grundrechtecharta ein Refoulementverbot unterstellt.

S. 538 - 540, Tagungsbericht

Birklbauer, Alois

Tagungsbericht „Maßnahmenvollzug: Systeme und Reformbedürftigkeit der Verwahrung“

Anfang Oktober fand in Wein eine Podiums- und Publikumsdiskussion zur Reformbedürftigkeit des Maßnahmenrechts und -vollzugs statt. Der zusammenfassende Tagungsbericht gibt den wesentlichen Inhalt dieser Veranstaltung wieder.

S. 541 - 543, Tagungsbericht

Marhali, Neomi

Tagungsbericht 7. Universitäre Strafvollzugstage

Am 21./22.9.2023 fanden die 7. Universitären Strafvollzugstage im Dachgeschoß des Juridicums der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien statt. Die Veranstaltung wurde in Kooperation zwischen dem Bundeministerium für Justiz, dem Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Wien sowie der Strafvollzugsakademie organisiert und abgehalten. Das diesjährige Tagungsthema lautete „Kommunikation im Strafvollzug & Erste Erfahrungen mit der Reform des Maßnahmenvollzugs“ und stieß auf reges Interesse. Rund 150 Teilnehmer:innen beteiligten sich mit Vorträgen und Diskussionsbeiträgen.

S. 544 - 545, Judikatur

Gebührenanspruchs des Dolmetschers

Vom Recht auf mündliche Dolmetschleistungen gem § 56 Abs 2 StPO sind auch die Kontakte mit Wahl- oder Amtsverteidigern umfasst. Wann das in der Bestimmung genannte Verlangen zu stellen ist, legt die Bestimmung nicht explizit fest. Die in der Judikatur vertretene Auffassung, ein solches Verlangen müsse jedenfalls im Voraus gestellt und bewilligt werden, findet keine Deckung im Gesetzeswortlaut und widerspricht auch der Intention des (Richtlinien-)Gesetzgebers.

S. 545 - 546, Judikatur

Dolmetschgebühren bei Verfahrenshilfe

Gem § 393 Abs 2 StPO sind einem nach § 61 Abs 2 StPO beigegebenen Verteidiger, soweit nicht nach § 56 Abs 2 StPO vorzugehen ist, auf sein Verlangen die nötig gewesenen und wirklich bestrittenen baren Auslagen vom Bund zu vergüten. Zu diesen Auslagen gehören auch die Kosten eines Dolmetschers, soweit dessen Beiziehung zu den Besprechungen zwischen dem Verteidiger und dem Beschuldigten notwendig war.

Der Anspruch auf Barauslagenersatz gem § 393 Abs 2 StPO steht dem bestellten Verfahrenshelfer zu. Der Gebührenanspruch des Dolmetschers richtet sich gegen den Verteidiger als Auftraggeber, für den die Dolmetschgebühren dann Barauslagen darstellen, nicht aber direkt gegen das Gericht.

S. 546 - 548, Judikatur

Dringlichkeit im Journaldienst / Rufbereitschaft

Die Zuständigkeit des Rufbereitschaftsrichters ist nur für außerhalb der gerichtlichen Dienststunden in Strafsachen anfallende unaufschiebbare und dringende Amtshandlungen gegeben, ebenso etwa bei Verhinderung des zuständigen Einzelrichters und dessen Vertreters, da es sich bei der Rufbereitschaft bloß um eine Sonderform der Vertretung handelt. Deshalb bleibt es der gerichtlichen Geschäftsverteilung unbenommen, bei Verhinderung eines Richters und entsprechender Dringlichkeit Vorsorge zu treffen. Mangels Dringlichkeit, welche nachvollziehbar ein Abgehen von der grundsätzlichen Zuständigkeitsregelung rechtfertigen würde, ist das Gericht nicht gehörig besetzt (§ 89 Abs 2a Z 1 StPO).

S. 548 - 549, Judikatur

Rechtsbegriff, normatives Tatbestandsmerkmal

Die Betätigung im nationalsozialistischen Sinn ist ein Rechtsbegriff und kommt als Anknüpfungspunkt für die Bestimmung des § 9 StGB gerade deshalb nicht in Betracht, weil sie als normatives Tatbestandsmerkmal vom Tätervorsatz umfasst sein muss. Ein diesbezüglicher Irrtum schließt demnach (schon) die Tatbestandsmäßigkeit des Täterverhaltens aus.

S. 549 - 551, Judikatur

Tauglichkeit des Versuchs, Herbeiführen einer Feuersbrunst

Bei Prüfung der Untauglichkeit der Handlung ist auf die Ex-ante-Sicht eines über den Tatplan informierten verständigen Beobachters abzustellen. Danach liegt nur dann ein absolut untauglicher Versuch iS des § 15 Abs 3 StGB vor, wenn die Verwirklichung der angestrebten strafbaren Handlung auf die vorgesehene Art bei generalisierender Betrachtung, somit losgelöst von den Besonderheiten des Einzelfalls, geradezu denkunmöglich ist und demzufolge unter keinen wie immer gearteten Umständen erwartet werden kann. Ein bloß relativ untauglicher Versuch ist dagegen anzunehmen, wenn die Tatvollendung nur infolge der zufälligen Modalitäten des konkreten Einzelfalls gescheitert ist. Auf die mehr oder weniger große Wahrscheinlichkeit eines solchen Scheiterns kommt es dagegen nicht an.

Bloße Unzulänglichkeiten in der Planung und Handlungsweise des Täters, wie etwa Ungeschicklichkeit oder unzureichende Sachkenntnis in Bezug auf das verwendete Mittel oder die Anwendung eines nicht schon in abstracto untauglichen Mittels entkleiden die Tathandlung auch dann nicht ihres tatbildmäßigen Charakters, wenn sie im konkreten Fall gescheitert ist.

Die Herbeiführung einer Feuersbrunst durch Legen von Papier auf eine eingeschaltete Herdplatte eines Mehrfamilienhauses ist aus der Sicht eines mit Durchschnittswissen ausgestatteten Beobachters nicht ausgeschlossen.

S. 552 - 553, Judikatur

Suchtgift, Besitz, Eigenkonsum, Diazepam, Gewacalm, psychotroper Stoff, gekürzte Urteilsausfertigung, Feststellungsmangel

Aus der gekürzten Urteilsausfertigung müssen die einen bestimmten Strafsatz bedingenden und gegebenenfalls die eine scheinbar bestehende Privilegierung ausschließenden Tatumstände ausdrücklich hervorgehen.

Diazepam ist ein psychotroper Stoff. Erwerb und Besitz eines Arzneimittels, das einen psychotropen Stoff enthält, ist unter den Voraussetzungen des § 30 Abs 3 Z 1 SMG straflos.

S. 553 - 554, Judikatur

Suchtgifthandel, Überlassen, Zusammenrechnung von Suchtgiftmengen, Additionseffekt, gekürzte Urteilsausfertigung, Feststellungsmangel, Reinsubstanzgehalt

Auch eine gekürzte Urteilsausfertigung erfordert Feststellungen zum Reinsubstanzgehalt des Suchtmittels, um beurteilen zu können, ob eine die Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigende Menge Suchtgift überlassen wurde.

Mehrere für sich allein die Grenzmenge nicht übersteigende Suchtgiftquanten sind nur insoweit zu einer die Grenzmenge übersteigenden Menge zusammenzurechnen, als der Vorsatz des Täters von vornherein die kontinuierliche Begehung und den daran geknüpften Additionseffekt mitumfasst.

S. 554 - 555, Judikatur

Suchtgift, Erwerb, Überlassen, Vorbereitungshandlung, Nichterledigung der Anklage, Subsidiarität

§ 28 Abs 1 (und Abs 2) SMG stellt eine selbstständig vertypte Vorbereitungshandlung zum Überlassen derselben Suchtgiftmenge nach § 28a Abs 1 5. Fall (Abs 2 Z 3) SMG dar und ist in diesem Verhältnis daher stillschweigend subsidiär.

Die Nichtannahme des Überlassens größerer Suchtgiftmengen im Zuge ein und desselben Tatgeschehens stellt den Nichtigkeitsgrund der Z 7 des § 281 Abs 1 StPO nicht her.

S. 556 - 557, Judikatur

Elektronisch überwachter Hausarrest – geeignete Beschäftigung / Aufenthaltsverbot

Das (bloße) Vorliegen eines rechtskräftigen Aufenthaltsverbots ist nicht gleichzusetzen damit, dass die Ausübung einer legalen Erwerbstätigkeit im Inland nicht mehr möglich ist.

S. 557 - 558, Judikatur

Videoaufzeichnung

Neben den in § 102b Abs 1 StVG genannten Gründen ist die Verwendung der Videoaufzeichnung ausdrücklich nur zur Verfolgung einer gerichtlich strafbaren Handlung oder einer Ordnungswidrigkeit erlaubt. Die Videoüberwachung ist für andere als in § 102b Abs 1 und 2 StVG (abschließend) genannte Zwecke nicht zulässig.

S. 558 - 558, Judikatur

Ordnungsstrafverfahren – Beweiswürdigung, Strafzumessung

Gem § 45 Abs 2 AVG gilt bei der Feststellung von Tatsachen der Grundsatz der freien Beweiswürdigung, somit ist lediglich die Überzeugungskraft der Beweismittel im gegebenen Zusammenhang für ihre Bewertung maßgebend. Die dabei vorgenommenen Erwägungen müssen schlüssig sein, das heißt, mit den Gesetzen der Logik und dem allgemeinen menschlichen Erfahrungsgut in Einklang stehen. Allein der Umstand, dass aus den vorliegenden Ermittlungsergebnissen auch andere Schlüsse gezogen werden könnten, macht die Beweiswürdigung nicht unschlüssig.

Bei der Strafbemessung im Ordnungsstrafverfahren ist gem § 107 Abs 4 1. Satz StVG (unter anderem auch) § 19 VStG anzuwenden.

S. 559 - 559, Judikatur

Bei einem aus Metall gefertigten, spitz zulaufenden Kubotan handelt es sich um eine Waffe iS des § 1 Z 1 WaffG

Nach § 1 Z 1 WaffG sind Waffen Gegenstände, die ihrem Wesen nach dazu bestimmt sind, die Angriffs- oder Abwehrfähigkeit von Menschen durch unmittelbare Einwirkung zu beseitigen oder herabzusetzen.

Anders als beim strafrechtlichen (funktionalen) Waffenbegriff, der nach hM und stRsp neben Waffen im technischen Sinn (nach § 1 WaffG) auch solche Gegenstände umfasst, die diesen nach ihrer Anwendbarkeit und Wirkung gleichkommen, ist nach der Legaldefinition des § 1 WaffG für die Qualifikation eines Gegenstandes als Waffe im Sinne des Waffengesetzes allein die objektive Zweckwidmung (bei deren Herstellung oder Umbau; vgl E.Frank/V.Frank, Waffengesetz 1996 – WaffG [2020] 22 K9) maßgeblich (vgl auch RIS-Justiz RS0122916).

(Fernöstliche) Kampfsportgeräte (zB Nunchaku, Wurfsterne, Tonfa) sind grundsätzlich Waffen iSd § 1 Z 1 WaffG (Keplinger/Löff/Szalkay-Totschnig, WaffG8 § 1 Anm 18), es sei denn es ergibt sich aus ihrer Gestaltung (zB Verwendung von Weichholz oder Plastik anstelle von Metall oder Hartholz, abgestumpfte Kanten), dass es sich dabei – objektiv – um Trainings- bzw Sportgeräte handelt (vgl Hickisch, Österreichisches Waffenrecht [1999] 12).

Das Kubotan wurde zur Selbstverteidigung entwickelt, dient sohin (objektiv) der Beseitigung oder Herabsetzung der Angriffsfähigkeit („Self Defense Stick“). Sofern es nicht als bloßes Trainingsgerät ausgestaltet ist, unterfällt es daher dem Waffenbegriff nach § 1 Z 1 WaffG.

S. 560 - 562, Judikatur

Zeder, Fritz

Vorabentscheidungsersuchen des Ekonomisko lietu tiesa (Gericht für Wirtschaftsangelegenheiten, Lettland) im Strafverfahren gegen (ua) AVVA, C-755/23, und im Strafverfahren „Linte“, C-785/23 (verbunden)

C-255/23:

1. Gestatten es die Art 1 Abs 1, 6 Abs 1 lit a sowie 24 Abs 1 Unterabs 2 der Richtlinie 2014/41/EU über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen einem Mitgliedstaat, vorzusehen, dass auch ohne Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung die Teilnahme einer Person mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat in ihrer Eigenschaft als beschuldigte Person an der Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens per Videokonferenz erlaubt ist, auch wenn in diesem Abschnitt der Durchführung des gerichtlichen Verfahrens die beschuldigte Person nicht vernommen wird, dh keine Beweiserhebung stattfindet, sofern die für das Verfahren zuständige Person in dem Mitgliedstaat, in dem das gerichtliche Verfahren stattfindet, die Möglichkeit hat, die Identität der Person mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat zu überprüfen, und die Wahrung der Verteidigungsrechte dieser Person sowie der Beistand durch einen Dolmetscher gewährleistet sind?

2. Falls die erste Frage bejaht wird: Könnte die Einwilligung der zu vernehmenden Person ein Kriterium oder eine eigenständige oder ergänzende Voraussetzung für ihre Teilnahme per Videokonferenz an der Durchführung dieses gerichtlichen Verfahrens, in dem keine Beweise erhoben werden, sein, wenn die für das Verfahren zuständige Person in dem Mitgliedstaat, in dem das gerichtliche Verfahren stattfindet, die Möglichkeit hat, die Identität der Person mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat zu überprüfen, und die Wahrung der Verteidigungsrechte dieser Person sowie der Beistand durch einen Dolmetscher gewährleistet sind?

C-285/23:

1. Ist Art 24 Abs 1 der Richtlinie 2014/41/EU über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen dahin auszulegen, dass die Vernehmung der beschuldigten Person in einer Strafsache per Videokonferenz auch deren Teilnahme per Videokonferenz von ihrem Wohnsitzmitgliedstaat aus einschließt, wenn das gerichtliche Strafverfahren in einem anderen Mitgliedstaat stattfindet?

2. Ist Art 8 Abs 1 der Richtlinie (EU) 2016/343 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren dahin auszulegen, dass das Recht der beschuldigten Person auf Anwesenheit in der Verhandlung, wenn das gerichtliche Strafverfahren in einem anderen Mitgliedstaat stattfindet, auch durch ihre Teilnahme per Videokonferenz von ihrem Wohnsitzmitgliedstaat aus gewährleistet werden kann?

3. Steht die Teilnahme der beschuldigten Person an einem in einem anderen Mitgliedstaat stattfindenden gerichtlichen Strafverfahren per Videokonferenz von ihrem Wohnsitzmitgliedstaat aus ihrer körperlichen Anwesenheit in der Verhandlung beim Gericht des Mitgliedstaats, bei dem der Fall verhandelt wird, gleich?

4. Darf, falls die erste und/oder die zweite Vorlagefrage bejaht werden sollte, die Videokonferenz nur unter Mitwirkung der zuständigen Behörden des Mitgliedstaats durchgeführt werden?

5. Falls die vierte Frage verneint wird: Darf das Gericht des Mitgliedstaats, bei dem das Verfahren anhängig ist, direkt mit einer beschuldigten Person in einem anderen Mitgliedstaat Kontakt aufnehmen und ihr den Verbindungslink zur Videokonferenz übermitteln?

6. Ist die Durchführung der Videokonferenz ohne die Mitwirkung der zuständigen Behörden des Mitgliedstaats mit der Beibehaltung des einheitlichen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts der Union unvereinbar?

S. 563 - 564, Judikatur

Rechtsprechungsübersicht EGMR – Kurzinfo

Der Bf wurde wegen schweren Mordes zu einer Freiheitsstrafe von 25 Jahren verurteilt, da er im betrunkenen Zustand die Kleidung seines Trinkpartners in Brand gesetzt hatte und dieser an den Folgen der schweren Verbrennungen starb. Der Bf brachte vor, dass er nicht über sein Recht zu schweigen, sein Recht sich nicht selbst zu belasten und sein Recht auf einen Verteidiger belehrt worden sei. Darüber hinaus sei zum Zeitpunkt der informellen Befragung am nächsten Tag eine mögliche Restalkoholisierung des Bf nicht getestet worden, und es sei kein formelles Protokoll der Befragung angefertigt worden. Ein Polizeibeamter erstellte lediglich einen offiziellen Vermerk über die Aussagen des Bf. Der EGMR stellte fest, dass der Bf offenbar nicht über seine Rechte belehrt wurde, bevor er am Tag nach seiner Verhaftung informell befragt wurde, und eine etwaige Restalkoholisierung des Bf nicht getestet wurde. Der EGMR stellte ferner fest, dass der Bf zwischen seiner Verhaftung und seiner informellen Befragung keinen Kontakt zu einem Verteidiger hatte. Erst mehr als fünfzehn Stunden nach seiner Festnahme konsultierte der Bf einen Rechtsanwalt. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits über zwei Stunden informell von drei Polizeibeamten befragt worden. Der EGMR ist der Ansicht, dass die Praxis einer informellen Befragung nach einer Festnahme, die nicht den Garantien des Art 6 Abs 3 EMRK entspricht, den Festgenommenen von Beginn an in eine nachteilige Lage versetzt. Es sei bedenklich, dass die nationalen Gerichte dieses Vorgehen nicht nur billigten, sondern sich direkt auf Aussagen des Bf aus der informellen Befragung stützten und diese darüber hinaus als besonders glaubwürdig erachteten. Eine solche Argumentation verstoße gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens. Der Bf wurde in seinen Rechten nach Art 6 Abs 3 lit c EMRK verletzt.

Die Bf wurde im Alter von 15 Jahren Opfer häuslicher Gewalt durch ihren 23-jährigen Partner, bei dem sie lebte. Nach einem derartigen Vorfall begab sich die Bf in ein Krankenhaus, wo ein gerichtsmedizinischer Befund angefertigt wurde. Gemäß diesem Befund wurden die erlittenen Verletzungen durch Schläge und Stöße mit bzw auf harte, teils stumpfe, teils kantige Gegenstände verursacht und führten bei der Bf zu Schmerzen und Leid. Die Bf brachte vor, dass sie in ihren Rechten nach Art 3 EMRK verletzt wurde, da der Staat es verabsäumt habe, sie angemessen zu schützen. Zum einen sei der Schutz auf gesetzlicher Ebene unzureichend, da es sich bei dem Delikt der leichten Körperverletzung, welches konkret einschlägig war, um ein Privatanklagedelikt handelt, das nicht von Amts wegen verfolgt wird (anders als ein Offizialdelikt). Zum anderen sei die Staatsanwaltschaft ihren Beschwerden nicht angemessen nachgegangen. Bezüglich der relevanten Rechtsvorschriften wies der EGMR erneut darauf hin, dass eine private Strafverfolgung eine übermäßige Belastung für Opfer häuslicher Gewalt darstelle. Das 2019 in Kraft getretene Offizialdelikt der leichten Körperverletzung im Rahmen häuslicher Gewalt setze wiederholte Gewaltakte (mind drei) von gewisser Schwere und das Vorliegen einer de facto ehelichen Beziehung voraus, welche nur dann vorliege, wenn es sich um Erwachsene handelt, die seit mehr als zwei Jahren zusammenleben. Aufgrund dieser Erfordernisse sei laut EGMR zu befürchten, dass eine Reihe von Fällen häuslicher Gewalt von der öffentlichen Strafverfolgung – wie im vorliegenden Fall – ausgenommen sind. Ist lediglich das Delikt der leichten Körperverletzung als Privatanklagedelikt einschlägig, liege es im Ermessen des Staatsanwalts, von Amts wegen Ermittlungen einzuleiten, wenn sich das Opfer dazu nicht in der Lage sieht. Der EGMR war daher der Auffassung, dass die geltende Rechtslage keine angemessene Reaktion auf häusliche Gewalt zuließ, deren (zT minderjährige) Opfer selbst nicht im Stande sind, ein Gerichtsverfahren als Privatankläger anzustrengen und zu verfolgen. Die nationale Rechtsordnung entspreche damit nicht der positiven Verpflichtung, ein wirksames System zur Verfolgung aller Formen häuslicher Gewalt und zum ausreichenden Opferschutz einzurichten. In Bezug auf den konkreten Fall wies der EGMR erneut darauf hin, dass ein Staat dazu verpflichtet ist, wirksame Ermittlungen einzuleiten, wenn eine Person begründete Missbrauchsvorwürfe erhebt. Die Staatsanwaltschaft lehnte die Einleitung von Ermittlungen ab, obwohl das Sozialamt sie darüber informiert hatte, dass die minderjährige Bf wiederholt von ihrem Partner geschlagen worden sei. Der EGMR könne die Untätigkeit der Staatsanwaltschaft unter diesen Umständen nur als unzureichend ansehen. Der EGMR kam zu dem Ergebnis, dass eine Verletzung von Art 3 EMRK vorliegt. Darüber hinaus stellte der EGMR eine Verletzung von Art 14 EMRK iVm Art 3 EMRK fest, da die im vorliegenden Fall geprüften Rechtsvorschriften nicht geeignet waren, eine angemessene Reaktion auf häusliche Gewalt zu ermöglichen, deren Opfer mehrheitlich Frauen sind. Nach wie vor seien Frauen unverhältnismäßig stark von häuslicher Gewalt betroffen, und die nationalen Behörden hätten sich nicht angemessen und ausreichend mit dem Problem beschäftigt, so der EGMR.

Der Bf behauptete im Rahmen des gegen ihn gerichteten Strafverfahrens eine Verletzung des Art 6 Abs 1 EMRK aufgrund der Unparteilichkeit der Vorsitzenden der Richterbank der Berufungs- und Revisionsstrafkammer (CPAR) des Gerichtshofs des Kantons Genf, die über die Rechtmäßigkeit der ihn betreffenden Strafanklage entschieden hatte. Die Vorsitzende Richterin war bereits als Haftrichterin im Verfahren gegen den Bf zuständig. Nach Aufhebung der Anordnung zur Verlängerung der Sicherheitshaft wiederholte die Richterin in ihrer Stellungnahme vom 3.10.2017, dass es „genügend Beweise“ gebe, die darauf schließen ließen, dass die Verurteilung des Bf „wahrscheinlich“ sei und dass das Beweismaterial in der Strafakte „weiterhin für die Schuld des Beschwerdeführers spreche“. Der EGMR stellte fest, dass die Aussagen der Richterin zur Notwendigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft in einem Stadium getätigt wurden, als die Ermittlungen bereits abgeschlossen waren. Der EGMR war der Auffassung, dass diese Äußerungen über den Ausdruck eines bloßen Verdachts hinausgingen. Sie zeigten, dass der Grat zwischen der Beurteilung der Notwendigkeit der Verlängerung der Untersuchungshaft des Bf und der Feststellung seiner Schuld sehr schmal wurde. Daraus folge, dass der Bf berechtigterweise befürchten konnte, dass die Richterin eine vorgefasste Meinung über seine Schuld hatte, als sie einige Monate später als Vorsitzende der Berufungs- und Revisionsstrafkammer über seinen Fall mitentschied und ihn zu einer Freiheitsstrafe verurteilte. Die Befürchtungen des Bf, die Richterin wäre nicht unparteiisch, seien daher objektiv begründet. In der Konsequenz erfüllte die CPAR nicht die in Art 6 Abs 1 EMRK geforderte Unparteilichkeit, und es lag ein Verstoß gegen Art 6 Abs 1 EMRK vor.

Die Bf war zwischen 2003 und 2007 Bürgermeisterin der Gemeinde Valea Perjii. Im Jahr 2008 wurde sie wegen Machtmissbrauchs begangen durch eine „Person, die eine Position mit Verantwortung innehat“ angeklagt (Art 328 Abs 1 des Strafgesetzbuchs). Im Jahr 2011 änderte die Staatsanwaltschaft die Anklage und stufte die ihr vorgeworfenen Handlungen als Machtmissbrauch begangen durch eine „Person, die eine hochrangige Position mit Verantwortung innehat“ ein (Art 328 Abs 3 lit b des Strafgesetzbuchs), was mit einem erhöhten Strafmaß einherging. Im Dezember 2011 wurde Art 328 Abs 3 lit b des Strafgesetzbuchs dahingehend abgeändert, dass die Definition des Tatsubjekts „Person, die eine hochrangige Position mit Verantwortung innehat“ durch „öffentliche Würdenträger“ ersetzt wurde. Die Bf wurde in der Folge nach Art 328 Abs 3 lit b (neue Fassung) verurteilt. Der EGMR stellte zunächst fest, dass die nationalen Gerichte eine Bestimmung des Strafgesetzbuchs anwandten, die nach den fraglichen Ereignissen in Kraft getreten war. Der einzige Unterschied zwischen dem Wortlaut der neuen und der alten Fassung bestand in der Definition des Tatsubjekts. Zwischen den Parteien war unstrittig, dass die Bf als Bürgermeisterin jedenfalls von der älteren Definition umfasst war. Gemäß dem Berufungsgericht wären die neuere und die ältere Formulierung als gleichwertig anzusehen. Laut der Bf hingegen wäre die Definition „öffentliche Würdenträger“ nicht auf sie anwendbar, da diese nur Personen umfasse, die nach einem in der Verfassung geregelten Wahlverfahren gewählt wurden oder vom Parlament, vom Präsidenten oder der Regierung ins Amt berufen wurden. Der EGMR hielt fest, dass sich die nationalen Gerichte nicht ausreichend mit den Hintergründen der Gesetzesänderung und deren Tragweite auseinandergesetzt hätten. Die Frage des Tatsubjekts und dessen Auslegung seien für die Anwendung der Norm auf die Bf entscheidend und hätten einer besonderen Sorgfalt bedurft. Auch das nationale Höchstgericht legte die neue Definition des Tatsubjekts unterschiedlich aus, was zu weiteren Unsicherheiten geführt habe. Die Bf konnte somit nach dem Inkrafttreten der Novelle vernünftigerweise nicht vorhersehen, dass sie nach Art 328 Abs 3 lit b des Strafgesetzbuchs in der neuen Fassung verurteilt werden würde, und es lag eine Verletzung des Art 7 Abs 1 EMRK vor.

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Heft 1, Mai 2014, Band 1
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