Rechtsprechungsübersicht EGMR – Kurzinfo
- Originalsprache: Deutsch
- JSTBand 10
- Judikatur, 359 Wörter
- Seiten 364 -365
- https://doi.org/10.33196/jst202304036401
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Die Bf wurde wegen des Vorwurfs der Verkehrsbeeinträchtigung auf die Polizeistation mitgenommen und dort eine Stunde lang zwecks Abgleichs mit dem nationalen Justizinformationssystem festgehalten. Zudem wurde über sie eine Verwaltungsstrafe iHv umgerechnet 26 EUR verhängt. Der EGMR stellte fest, dass die Bf sich widerstandslos vor Ort ausgewiesen hatte und dass die Verhängung einer Verwaltungsstrafe und der Abgleich mit dem Justizinformationssystem in der Regel vor Ort vorgenommen werden kann. Die Regierung konnte außerdem nicht darlegen, inwiefern die nationalen Behörden versucht hatten, die Verkehrsbeeinträchtigung auf anderem Wege zu unterbinden. Schließlich kam der EGMR zu dem Ergebnis, dass es sich bei der Verkehrsbeeinträchtigung nicht um eine Straftat handelte, auch keine sonstigen Strafverfahren eingeleitet worden waren und die Bf auch nicht im Begriff gewesen war, eine andere Straftat zu begehen. Er stellte daher eine Verletzung von Art 5 EMRK wegen des Festhaltens auf der Polizeistation fest.
Der Bf wurde 1981 wegen Mordes an fünf Personen im Zusammenhang mit einem Raubüberfall zu lebenslanger Haft verurteilt. Sowohl die nationalen Gerichte als auch die psychiatrischen Gutachter stellten später fest, dass eine Verlängerung der Inhaftierung des Bf im Gefängnis weder im Hinblick auf die öffentliche Sicherheit noch im Hinblick auf seine Rehabilitation und Wiedereingliederung in die Gesellschaft angemessen sei. Sie empfahlen daher, den Bf vor einer möglichen Entlassung in eine forensisch-psychiatrische Einrichtung aufzunehmen. Die nationalen Gerichte lehnten daher andere Strafanpassungen wie begrenzte Haft oder elektronische Überwachung ab und betonten, dass die Aufnahme des Antragstellers in eine forensisch-psychiatrische Einrichtung ein wesentlicher Schritt zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft sei. Allerdings sei die Aufnahme des Bf in eine solche Einrichtung „praktisch unmöglich aufgrund von Finanzierungsproblemen“, da die betreffenden Einrichtungen nur für Personen in Zwangsunterbringung staatliche Subventionen erhielten, aber nicht für verurteilte Personen wie den Bf. Der EGMR stellte fest, dass die Lage, in der sich der Bf seit mehreren Jahren aufgrund der praktischen Unmöglichkeit, einen Platz in einer forensisch-psychiatrischen Einrichtung zu bekommen, obwohl seine Inhaftierung im Gefängnis von den nationalen Behörden nicht mehr als angemessen betrachtet wurde, dazu führte, dass er derzeit keine realistische Aussicht auf Entlassung hatte. Diese Situation führte zu einer de facto nicht reduzierbaren lebenslangen Haftstrafe und verstieß daher gegen Artikel 3 EMRK.
- EGMR, 07.02.2023, Nr 84543/17, Duğan ./. Türkei
- Art 5 EMRK
- Art 3 EMRK
- Strafrecht- und Strafprozessrecht
- JST-Slg 2023/4
- EGMR, 09.05.2023, Nr 37928/20, Horion ./. Belgien
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