Der Richtlinien-Entwurf der Europäischen Kommission zur Bekämpfung von Einschüchterungsklagen soll einer Gefährdung der Kommunikationsgrundrechte entgegenwirken. Er beschränkt sich auf Zivilverfahren mit grenzüberschreitendem Bezug, wobei dieser extensiv ausgelegt wird. Die Richtlinie soll verschiedene Rechtsinstrumente iZm Prozesskosten und Sanktionen vorsehen. Dadurch entsteht ein Konflikt mit den Verfahrensgrundrechten der Kläger:innen, insb mit deren Recht auf Zugang zu einem Gericht. Eine Analyse der Rsp des EGMR zu Art 6 EMRK legt jedoch nahe, dass Zugangsbeschränkungen zum Schutz vor missbräuchlicher Klagsführung gerechtfertigt werden können. Bei offenkundig unbegründeten Klagen soll es darüber hinaus möglich sein, eine vorzeitige Verfahrenseinstellung zu beantragen. Hier lässt der Entwurf allerdings offen, inwieweit diese weitreichende Maßnahme mit dem Recht auf ein faires Verfahren in Einklang gebracht werden kann. Die Kommission reduziert den Anwendungsbereich der vorzeitigen Verfahrenseinstellung auf ein Minimum. So verfehlt der Entwurf am Ende das Ziel eines umfassenden Schutzes vor Einschüchterungsklagen.
- ISSN Online: 2309-7477
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Inhalt der Ausgabe
S. 413 - 419, vor.satz
Einschüchterungsklagen, Verfahrensgrundrechte und die Zuständigkeit der EU
Als Reaktion auf den Angriffskrieg gegen die Ukraine beendete der Europarat die 26-jährige umstrittene Mitgliedschaft Russlands. Während der Europarat sich dafür entschied, Russland mit sofortiger Wirkung aus dem Europarat auszuschließen, nahm er eine Bindung an die EMRK für weitere sechs Monate an. Diese Vorgehensweise ist beachtlich, da sie rechtlich nicht alternativlos war. Gleichzeitig kommt in ihr die allgemeine Ambivalenz eines Ausschlusses aus einer internationalen Menschenrechtsorganisation zum Ausdruck.
S. 429 - 432, merk.würdig
Ein Standardwerk für eine rassismuskritische Rechtswissenschaft
Doris Liebscher hat mit „Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus. Genealogie einer ambivalenten rechtlichen Kategorie“ (2021) ein Werk vorgelegt, welches das Potential zum Standardwerk für rassismuskritische Rechtswissenschaft hat. Es leistet notwendige Begriffsarbeit, zeichnet historische Entwicklungslinien nach und bleibt bei aller interdisziplinären und rassismustheoretischen Expertise im Recht verankert.
Als Symbol für die Privilegien des motorisierten Individualverkehrs im öffentlichen Raum entstand in Wien die Initiative "Cabriobeet": ein komplett mit Erde gefülltes Cabrio, das zugelassen und mit Anrainerparkpickerl versehen als Kräuterbeet für die Nachbarschaft fungiert. Nachdem die Behörden eine permanente Fahrbereitschaft einforderten, wurde die Blumenerde vom Fahrersitz entfernt und ein Kräutertopf installiert. Das Schwesternprojekt "Cabriostrand", ein mit Sand gefülltes Cabrio, das als Sandkiste in den Grazer Parkspuren unterwegs ist, hatte es schwieriger: innerhalb kürzester Zeit wurde die Anrainerparkbewilligung entzogen. Das "Motiv des Gesetzgebers" für Ausnahmeregelungen zum Parkieren sei nicht für die Zweckentfremdung zur Sandkiste gedacht. Der vorliegende Beitrag soll einen praxisnahen Bericht über die Zweckentfremdung von Fahrzeugen zu medialen Werkzeugen der Verkehrswende darstellen.
Vor rund 70 Jahren wurden in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) die Verfolgungsursachen festgelegt, die einen Asylstatus begründen. Dabei wurde auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe als einer der Konventionsgründe anerkannt, jedoch ohne nähere Erläuterungen und mit vielen offenen Fragen, die bis heute unbeantwortet blieben. Dieser Beitrag befasst sich konkret mit der strittigen Frage, ob die Opfer von Menschenhandel auch eine soziale Gruppe iSd GFK darstellen und untersucht dazu eine aktuelle Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs.
Die Live-Übertragung des Verleumdungsprozesses Depp v. Heard wirft die Frage der Gerichtsöffentlichkeit im digitalen Zeitalter, nicht nur in den USA, sondern auch in Europa, erneut auf. Anders als in den USA sind solche Live-Übertragungen, wie auch sonst jegliche Film- und Fotoaufnahmen, von Gerichtsverhandlungen in Österreich gem § 22 MedienG verboten. Hierbei stellt sich die Frage, ob ein solches Verbot kriminalpolitisch sinnvoll ist. Bietet die Live-Übertragung neue Chancen für eine verbesserte und transparentere Justiz, oder geht sie mit ernstzunehmenden Gefahren einher? Welche sind diese potenziellen Gefahren und was können wir dazu aus dem Verfahren Depp v. Heard und dessen Rezeption auf Social-Media lernen? Zu welchem Preis soll eine ultimative Öffentlichkeit allenfalls hergestellt werden? Sind Ausnahmen vom Übertragungsverbot denkbar? Ua diesen Fragen widmet sich der folgende Beitrag.
Das Jahr 1945 hatte für unter dem NS-Regime verfolgte Homo- und Bisexuelle weder rechtliche noch soziale Rehabilitation mit sich gebracht: Sie waren weiterhin der Gefahr ausgesetzt, in die Fänge von Polizei und Justiz zu geraten und Opfer der Strafverfolgung auf Basis des seit 1852 in Kraft befindlichen § 129 I lit b StG („Unzucht wider die Natur“) zu werden. Ein anschauliches Beispiel für das Vorgehen der Nachkriegsjustiz konnte 1956 in Vorarlberg beobachtet werden, wo es der StA Feldkirch infolge akribischer Ermittlungen gelungen war, rund 140 Personen auszuforschen, anzuklagen und in 98 % der Fälle eine Verurteilung durch das LG Feldkirch zu erreichen. Aufbauend auf eine im Vorheft erschienene Abhandlung (juridikum 2022, 317) beleuchtet der vorliegende Beitrag die Hintergründe der als „Vorarlberger Sittlichkeitsskandal“ bezeichneten Causa und rückt dabei auch Schicksale einzelner Betroffener in den Fokus, die noch Jahre später mit den Folgen der Schuldsprüche zu kämpfen hatten.
S. 462 - 473, recht & gesellschaft
Ausnahmen vom Einbürgerungskriterium des gesicherten Lebensunterhalts
Der vorliegende Beitrag bespricht § 10 Abs 1 Z 7 iVm § 10 Abs 1b Staatsbürgerschaftsgesetz (StbG), der eine Ausnahme von den ökonomischen Einbürgerungsvoraussetzungen vorsieht: Menschen, die unverschuldet nicht in der Lage sind, einen gesicherten Lebensunterhalt nachzuweisen, sollen in bestimmten Fällen dennoch Zugang zur Staatsbürgerschaft haben. Das Gesetz nennt Behinderung und schwerwiegende Krankheit als exemplarische Fälle. Der Beitrag zeigt, dass die Rsp den Anwendungsbereich der Bestimmung dermaßen verengt, dass ihr demonstrativer Charakter weitgehend verloren geht, wiewohl gute Gründe für ein weiteres Verständnis der Bestimmung sprechen.
S. 474 - 480, thema: Jeder Mensch?
Jeder Mensch?
Der Schwerpunkt „Jeder Mensch?“ beleuchtet ausgehend von der Forschungsarbeit eines Projektteams aus verschiedenen Wissenschaftler:innen die Grundrechtsvorschläge der Initiative „Jeder Mensch“ rund um den Autor Ferdinand von Schirach: Aus einer rechtswissenschaftlichen Perspektive werden diese auf ihre Tauglichkeit und Notwendigkeit hin überprüft und konkrete Vorschläge bzw Alternativen angeboten, um aktuellen Herausforderungen, wie Umweltkrise, fortschreitende Digitalisierung, Globalisierung und der Frage nach einer geeigneten Durchsetzungsmöglichkeit der Grundrechte angemessen begegnen zu können. Zu diesem Zweck wurden für den vorliegenden Schwerpunkt sechs Beiträge verfasst, die sich jeweils mit einem von Schirach vorgeschlagenen Artikel aus inhaltlicher Perspektive auseinandersetzen. Ziel ist es, eine wissenschaftliche Debatte sowohl über die vorgeschlagenen Grundrechte im Einzelnen, als auch über die Weiterentwicklung unseres Grundrechtsbestands anzustoßen. Vorliegender Schwerpunkt tut dies aus Sicht des Unionsrechts und möchte beurteilen, ob die Vorschläge geeignet oder notwendig sind, um bestehendes Recht zu ergänzen. Die Vorschläge werden dazu kritisch beleuchtet, auf ein polemisches Fantasieren und Kritisieren wird jedoch zugunsten einer wissenschaftlichen Debatte verzichtet.
Die Bewältigung klima- und umweltbedingter Herausforderungen ist die entscheidende Aufgabe unserer Generation. Angesichts deren Tragweite schlägt Ferdinand von Schirach die Ergänzung der europäischen Grundrechtecharta um ein Umweltgrundrecht vor. Die Einführung bzw vorgeschlagene Formulierung dieses Umweltgrundrechts scheint die Grenzen der bestehenden Grundrechtsdogmatik erheblich zu strapazieren. Der Sache nach – es geht um nicht weniger als die Sicherung der menschlichen Existenz – wirkt das aber notwendig. Der folgende Beitrag soll die „Grundrechtstauglichkeit“ des Vorschlags im Detail prüfen.
Ferdinand von Schirachs Vorschlag neuer Grundrechte für Europa beinhaltet unter anderem das Recht auf digitale Selbstbestimmung sowie die damit inhaltlich verknüpften Verbote, Menschen mithilfe digitaler Technologien auszuforschen oder zu manipulieren. Der Grundrechtsvorschlag wendet sich gegen eine der größten Herausforderungen unserer Zeit, zumal die Digitalisierung kontinuierlich voranschreitet, mit ihr aber auch der Umstand, dass Freiheit und Gleichheit der Bürger:innen respektive ihrer Fähigkeit selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen, immer stärker unter Druck geraten. Der vorliegende Beitrag befasst sich vor diesem Hintergrund mit der Frage, ob ein Grundrecht auf digitale Selbstbestimmung, wie es Schirach vorschlägt, in das System der GRC aufgenommen werde sollte.
S. 502 - 512, thema: Jeder Mensch?
Artikel 3 – Künstliche Intelligenz
Künstliche Intelligenz und Algorithmen bestimmen zunehmend unseren Alltag. Sie bringen aber nicht nur Erleichterungen, sondern erfordern mit zunehmendem Einsatz vor allem in sensiblen Bereichen auch Regelungen, die das Zusammenleben zwischen Mensch und Maschine regulieren. Dies gilt insbesondere dann, wenn Grundrechte durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz (potenziell) gefährdet werden. Während unbestritten ist, dass bestehende Grundrechte auch auf Künstliche Intelligenz und Algorithmen anwendbar sind, zeigt vorliegender Beitrag auf, dass dieser Schutz jedoch nicht allumfassend ist, Rechtssicherheit vermissen lässt und Spezifika der Onlinewelt mitunter nicht abbilden kann.
Art 4 des Vorschlags neuer Grundrechte für Europa von Ferdinand von Schirach beinhaltet das Recht, von Amtsträger:innen nicht belogen zu werden. Damit soll die systematische Verbreitung von Lügen durch Spitzenpolitiker:innen in der Exekutive verhindert werden. Dieser Beitrag zeigt die mögliche Tragweite eines solchen Grundrechts, dessen Eingliederung in das europäische Grundrechtssystem und die Schwierigkeiten seiner Umsetzung. Das Problem systematischer Lügen von Politiker:innen sollte nicht über ein Individualgrundrecht gelöst werden. Vielmehr sollen die demokratisch gewählten Vertretungskörper die Verantwortlichkeit hochrangiger Politiker:innen wahrnehmen. Art 4 der neuen Grundrechte sollte allenfalls als Anstoß genutzt werden, bestehende Systeme zu überdenken und gegebenenfalls zu verbessern.
Der Beitrag behandelt Art 5 der von Ferdinand von Schirach vorgeschlagenen Grundrechte – das Recht auf faire Globalisierung. Der Vorschlag reiht sich in die seit einigen Jahren anhaltende Diskussion rund um die Notwendigkeit höherer Sorgfaltspflichtstandards in einer globalisierten Konsumgesellschaft ein. Beschrieben wird hierbei deshalb, ob ein solches Grundrecht im Rahmen der GRC möglich wäre, bzw welche Alternativen auf unions- und völkerrechtlicher Ebene bestehen oder im Entstehungsprozess sind.
Die bestehenden Verfahrensarten vor dem EuGH haben sich im Großen und Ganzen bewährt, weisen aber jeweils entscheidende Schwächen auf. Der Beitrag untersucht, wie der Vorschlag der Einführung einer Grundrechtsklage bestehenden Problemen beim (grundrechtlichen) Rechtsschutz in der EU-Gerichtsbarkeit Abhilfe schaffen könnte.
S. 545 - 548, nach.satz
Die Erfindung des Body Mass Index und was Adipositas mit Behinderung zu tun hat?
Menschen mit hohem Körpergewicht erfahren in vielen Lebensbereichen Ausgrenzung und Stigmatisierung, denn das Körpergewicht ist kein ideologie- und wertungsfreier Raum. Dies zeigt alleine der nicht unproblematische Hintergrund des weltweit anerkannten Body Mass Index (BMI). Im Antidiskriminierungsrecht finden sich zwei Ansätze, Menschen, die aufgrund ihres Gewichts Diskriminierungen erfahren, zu schützen. Dies erfolgt zum einen über die Aufnahme des Merkmals „Gewicht“ in den Katalog geschützter Diskriminierungskategorien und zum anderen über den „Umweg“ des geschützten Merkmals der „Behinderung“. Beide Ansätze vermögen nicht zur Gänze zu überzeugen und einen lückenlosen Diskriminierungsschutz für übergewichtige Menschen zu gewährleisten.