Der Beitrag behandelt aktuelle physische, rechtliche, persönliche und psychologische Grenzverschiebungen und Grenzziehungen, die im Zusammenhang mit den aktuellen Wanderungsbewegungen in die Europäische Union von „Außen“ zu beobachten sind und plädiert dafür, es möglichst allen in der EU-Seienden Menschen zu ermöglichen, ihre jeweiligen Freiheiten in Sicherheit zu entfalten.
- ISSN Online: 2309-7477
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Inhalt der Ausgabe
Rezension zu: Ulrike Lembke (Hrsg), Menschenrechte und Geschlecht, Band 28 der Schriften zur Gleichstellung, Nomos, Hamburg/Berlin (2014), 271 Seiten, ISBN 978-3-8487-1637-1 (Print), ISBN 978-3-8452-5677-1 (ePDF)
Menschenrechte und Geschlecht – das ist im Menschenrechtsdiskurs seit Jahrzehnten ein zentrales Thema der Frauen- und Geschlechterforschung. Der vorliegende Sammelband „Menschenrechte und Geschlecht“ widmet sich in neun Beiträgen zentralen Fragen des internationalen Menschenrechtsschutzes und bietet damit einen profunden Einblick in den aktuellen Forschungsstand.
Der Beitrag fasst die zentralen Inhalte des Schrems-Urteils des EuGH zusammen, mit dem dieser die „Safe Harbour“-Entscheidung der Kommission aufhebt und dem transatlantischen Datentransfer in die USA die rechtliche Grundlage entzieht. Der EuGH fordert eine Gleichwertigkeit des Datenschutzes und stärkt die Rolle von Datenschutzkontrollbehörden. Allerdings ist sein expansiver Ansatz auch auf Kritik gestoßen; außerdem bleibt die Datenschutzarchitektur Europas nach innen unvollendet. Der Beitrag endet mit einem Ruf nach datenschutzsensibler Rechtspolitik.
S. 417 - 421, merk.würdig
Wie Konzerne (noch immer) europäische Entscheidungen beeinflussen: ExpertInnengruppen der EU-Kommission revisited
Im Europäischen Gesetzgebungsprozess kommt den ExpertInnengruppen, die die Kommission zu einer breiten Themenpalette beraten, eine einflussreiche Rolle zu. Jedoch sind die ExpertInnengruppen nicht ausgewogen besetzt, sondern werden regelmäßig von Industrie und Wirtschaft dominiert. Auch die Arbeitsweise dieser Gruppe ist oftmals intransparent. Der Beitrag stellt aktuelle Beispiele und Entwicklungen vor, die die Reichweite des Problems illustrieren (u.a. VW-Skandal um die Manipulation von Abgaswerte-Messungen, Digitaler Binnenmarkt, Abbau von Schiefergas/Fracking). Weiters analysiert der Beitrag die bisherigen Regulierungsansätze, die Diskussionen in den europäischen Institutionen (Parlament, Kommission, Bürgerbeauftragte) sowie mögliche Reformansätze.
S. 422 - 426, merk.würdig
Rechtsberatung ; المشورة القانوني (Arabisch) ; مشاور حقوقی (Farsi)
Immer mehr Menschen aus den Kriegsländern, wie Syrien und Irak flüchten nach Europa. Seit Anfang September 2015 erreichen täglich zahlreiche Flüchtlinge die Wiener Bahnhöfe. Der Staat bleibt untätig. Zivilgesellschaftliche Initiativen bilden sich, um das Versäumnis aufzufangen, darunter auch eine Gruppe freiwillliger RechtsberaterInnen, die seither täglich an verschiedenen Standorten beraten, um die Flüchtlinge mit rechtlichen Informationen zu versorgen. Menschen aus Syrien wollen nach Deutschland weiterreisen. Grund dafür ist Deutschlands Erklärung über die Aussetzung der Dublin III Verordnung, die eine Rückschiebung nach Ungarn verhindert, allerdings nur für SyrerInnen. Dies bleibt nicht ohne Folgen. Zugverbindungen nach Deutschland werden eingestellt, Grenzkontrollen errichtet und Grenzzäune gebaut. Der Artikel schildert die persönlichen Eindrücke von freiwilligen RechtsberaterInnen über die Flüchtlingskrise, staatliches Versagen und zivilgesellschaftliche Errungenschaften.
S. 427 - 438, recht & gesellschaft
Zur Legitimität von Geschlechtsnormierungen bei intersexuellen Minderjährigen
Intersexualität liegt vor, wenn Menschen mit ambivalenten Geschlechtsmerkmalen geboren werden. Der medizinische Diskurs definiert diese Phänomene als krankheitswertige Störungen, sodass Betroffene häufig bereits im frühen Kindesalter irreversiblen Maßnahmen zur Geschlechtsanpassung unterzogen werden. Nach einer kurzen Darstellung der gegenwärtigen Praxis wird anhand der Kritik von intergeschlechtlichen Menschen die Legitimität der fremdbestimmten Durchführung besagter Eingriffe juristisch hinterfragt. Dabei wird der Anwendungsbereich des Verbotes der Sterilisation, der Genitalverstümmelung sowie der Durchführung kosmetischer Operationen an Personen unter 16 Jahren näher beleuchtet. Nach einem Resümee zur Notwendigkeit der Entpathologisierung intersexueller Phänomene und Schaffung spezifischer Schutznormen, erfolgt ein kurzer Überblick über das geltende Personenstandsrecht. Dabei werden u.a. Möglichkeiten zu einem „Offenlassen“ der geschlechtlichen Kategorisierung aufgezeigt.
S. 439 - 450, recht & gesellschaft
Gewalt an Frauen mit Behinderungen – allgegenwärtig und noch immer tabuisiert
Gewalt an Frauen mit Behinderungen ist noch immer ein Tabuthema. Im Artikel werden die wichtigsten Ergebnisse des EU-Projekts „Zugang von Frauen mit Behinderungen zu Opferschutz und Unterstützungseinrichtungen bei Gewalterfahrungen“ vorgestellt, das in Österreich, Deutschland, Island und Großbritannien von 2013-2015 durchgeführt wurde. Im Mittelpunkt standen die vielfältigen Gewalterfahrungen von Frauen mit Behinderungen und deren Zugang zu formellen Unterstützungsstrukturen bzw die Barrieren, denen sie dabei begegneten. Die Formen von erlebter Gewalt reichen von psychischer, körperlicher, sexualisierter, struktureller bis hin zu behinderungs-spezifischer Gewalt. Nur wenige Frauen nutzten Angebote von formellen Unterstützungseinrichtungen. Die von den Interviewten dafür genannten Gründe werden im Beitrag behandelt. Besonders gefährdet sind Frauen mit Behinderungen in stationären oder teilstationären Einrichtungen. Für die Gewaltausübenden bleibt die Gewalt allerdings oft ohne jede Folge.
S. 451 - 461, recht & gesellschaft
Täterarbeit nach Betretungsverbot – in jedem Fall ein Beitrag zum Opferschutz?
Menschen ändern sich nicht von heute auf morgen – dies gilt auch für Männer, die ihren Partnerinnen und Kindern gegenüber gewalttätig sind. Wenn nach der Anordnung eines Betretungsverbotes die Vermittlung des Gefährders an eine Täterarbeitseinrichtung erfolgt, stellt sich die Frage, inwiefern dieses Beratungsangebot einen Beitrag zur Prävention von Gewalt an Frauen und Kindern leistet. Gerade nach einem Betretungsverbot hat das Opfer in einer Situation der extremen Verunsicherung über weitere Schritte zum Ausstieg aus der Gewaltbeziehung zu entscheiden. Täter häuslicher Gewalt agieren oft sehr manipulativ und nutzen die besondere Verletzlichkeit des Opfers dafür, dessen Ausstieg aus der Gewaltbeziehung zu vereiteln. Nur wenn Opferschutz- und Täterarbeitseinrichtungen nach den bewährten opferschutzorientierten Programmen kooperieren, kann die Täterarbeit nach der Anordnung eines Betretungsverbots zum Opferschutz beitragen und sowohl in Hinblick auf Opfer als auch Täter effizient sein.
Der Beitrag fragt zunächst danach, was gemeint ist, wenn man von einem Verfassungscoup spricht und geht der Frage nach, inwieweit in Ungarn derzeit ein solcher vorliegen könnte. Seit Machtantritt der FIDESZ-Partei in Ungarn im Jahr 2010, wird die verfassungsrechtliche Grundlage des Landes systematisch geändert. Ausgehend von der Verfassung von 1989 wurde die institutionelle Ordnung grundlegend verändert, dies mündete 2011 in die Schaffung eines gänzlich neuen „Ungarischen Grundgesetzes“. Zusätzlich erfolgte eine Platzierung von politisch gleichgesinnten Richter_innen auf der Richter_innenbank. Zwar steht Ungarn innerhalb einer europäischen Wertegemeinschaft, doch kann diese nur sehr beschränkt effektiv institutionelle und explizit demokratische Standards vorgeben. Es scheint, als ob die EU dem Änderungsprozess in Ungarn nicht entgegenwirken könne. Im Beitrag werden aber Ausblicke auf rechtliche Möglichkeiten, diesem Prozess dennoch entgegenzuwirken, geboten.
S. 471 - 481, debatte
Legal Gender Studies: Grundkonstellationen und Herausforderungen
Der Beitrag bietet einen Überblick über Ausgangspunkte, Themen, Problemfelder, Arbeitsweisen sowie institutionelle Entwicklungen der Legal Gender Studies. Skizziert werden etwa die (historischen) Ausschlüsse von und Platzzuweisungen an Frauen sowie rechtliche Gleichbehandlungs- und Gleichstellungsinstrumente dagegen, Bedeutungen von „Geschlecht“ zwischen Dekonstruktion und Anerkennungsverhältnis sowie aktuelle Polemiken gegen den „Genderwahn“ – nicht zuletzt als Reaktion darauf, dass Gender Studies eine_n aus der Hängematte traditioneller Geschlechterverhältnisse werfen. Die Komplexität des Geschlechterbegriffs erweist sich nicht nur an dessen „normativer Wendung“ im Zuge der Dekonstruktion, sondern auch an dessen intersektioneller Erweiterung: Geschlecht ist bloß ein Element in einer Welt multidimensionaler Positionierungen im Rahmen hierarchisierter Differenzen. Entsprechend anspruchsvoll ist die stets neu zu stellende Frage, wie Autonomie durch Recht ermöglicht werden kann.
Dem Thema „Dichotomien im Recht“ hat sich der Schwerpunkt des juridikum 4/2015 verschrieben. „Dichotomie“ bedeutet „Zweiteilung“ und derlei finden sich im Recht zuhauf: Recht – Unrecht, Schuld – Freispruch, Täter_in – Opfer usw. Sowohl in Anknüpfung an (wiederum selbst oft binäre) Kategorien außerhalb des Rechts, als auch in seiner eigenen Strukturierung, folgt das Recht einer dichotomen Ordnung. Diese setzt es voraus, re/produziert und verhandelt sie, Platz für Gleichzeitigkeit und Vielfalt bleibt da kaum. Durch die Infragestellung dieser dichotomen Ordnung geraten Kategorien ins Wanken, scheinbare Gegensätzlichkeiten lösen sich auf und Zwischenräume werden sichtbar. Dergestalt zeigt sich die rechtliche „Zweiteilung“ in einem anderen Licht, zerbricht gar zur Gänze. Einigen dieser Dichotomien im Recht geht der Schwerpunkt nach. Welche das genau sind, wird im Vorwort skizziert.
Die Trennung von Sein und Sollen ist für Juristinnen und Juristen oft selbstverständlich. Weniger bekannt ist, was es mit dem Sollen überhaupt auf sich hat und welche Begriffe eigentlich alle zum Reich des Sollens gehören. Anhand der Rechtstheorie Hans Kelsens werden die Verästelungen und Verflechtungen der Sein-Sollen-Dichotomie gezeigt. Dabei kommt hervor, dass so wohlbekannte Begriffspaare wie Macht und Recht, Kausalität und Zurechnung, Mensch und Rechtsperson, Determinismus und Willensfreiheit allesamt nur Ausprägungen der einen, großen Unterscheidung sind: Nämlich ob die Welt durch die Brille des Seins, dh der Faktizität, oder durch die Brille des Sollens, dh der Normativität, betrachtet wird.
Der Aufsatz liefert eine einführende Darstellung und Analyse der Rechtsutopien von Giorgio Agamben und Christoph Menke. Ausgehend von einer Rekonstruktion wesentlicher Motive von Walter Benjamins berühmter „Kritik der Gewalt“, auf die Agamben und Menke sich produktiv und kritisch beziehen, wird nachvollzogen, wie Agamben und Menke in jeweils eigener Weise das Problem des strukturellen Zusammenhangs von Recht und Gewalt ausbuchstabieren. Es wird gezeigt und kritisch evaluiert, wie beide in unterschiedlicher Weise auf Benjamins auslegungsbedürftige Figur einer „Entsetzung des Rechts“ rekurrieren, um ein utopisch transformiertes Recht bzw Verhältnis zum Recht in Aussicht zu stellen, das die von Benjamin postulierte Schicksalhaftigkeit der Rechtsgewalt zu überwinden vermag.
S. 505 - 515, thema: Dichotomien im Recht
Dichotomien in intimer PartnerInnengewalt unter Einschluss einer Genderperspektive
Intimer PartnerInnengewalt wird vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt. Eine Genderperspektive wird dabei tw miteinbezogen, oftmals liegt der Fokus dabei auf Gewalt gegen Frauen und Mädchen. In diesem Beitrag wird intime PartnerInnengewalt in Hinblick auf Forschung zu Frauen und Männern aufgegriffen und Dichotomien dieser Forschung aufgezeigt, wie Abgrenzungen unterschiedlicher Formen und Kontexte von Gewalt sowie Forderungen zur Inkludierung von Resilienz.
Dichotomien und Abgrenzungen können es erschweren, die Komplexität von intimer PartnerInnengewalt zu fassen. Die Sicht auf Frauen als Betroffene wird ebenso wie die Wahrnehmung von Männern als Täter verstärkt. Diese Dichotomien bei Betroffenheit und Täterschaft tragen ua dazu bei, dass gegenläufige Sichtweisen (zB Frauen als Täterinnen) weniger Beachtung geschenkt wird. Es ist an der Zeit, den Blickwinkel auf intime PartnerInnengewalt zu weiten, um die Verwobenheit verschiedenster Aspekte besser erkennen zu können.
Die Vorstellung zweier natürlicher und grundlegend differenter Geschlechter ist Teil der modernen Wissensordnung, die individuelle Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster genauso wie gesellschaftliche Institutionen durchzieht. Auch das Recht und der Staat sind solche Institutionen, die auf der Annahme zweier Geschlechter fundamental aufbauen. Zweigeschlechtlichkeit ist ein Ordnungsprinzip, das die rechtliche Regulierung von Identitäten, Körpern und Verhaltensweisen wirkmächtig bestimmt und mit Hierarchisierung und Exklusion einhergeht. Zweigeschlechtlichkeit wird daher als juridische Praxis beschrieben, die sich sowohl in den Grundlagen moderner Staatlichkeit (zB Gesellschaftsvertrag, Rechtssubjekt) wie auch in den alltäglichen Prozessen des Rechts (zB im Personenstandsrecht) zeigt. Feministisch-queere Rechtspolitiken, die versuchen, die binäre Geschlechterordnung des Rechts herauszufordern und eine alternative juridische Geschlechterpraxis zu etablieren, werden abschließend skizziert.
S. 529 - 539, thema: Dichotomien im Recht
Greece’s strangulation by the EU: dictated by law or politics?
S. 540 - 544, nach.satz
40 Jahre „Große Familienrechtsreform“: Gleichheit hinter den Türen des Privaten?
Der Beitrag hebt zunächst die Bedeutung der „Großen Familienrechtsreform“ aus dem Jahr 1975 hervor, um im Anschluss daran einen exemplarischen Überblick über wichtige seither erfolgte Novellen im österreichischen Familienrecht zu nennen. Die jüngsten Novellen wurden vielfach von den Höchstgerichten als punktuelle Korrekturen menschenrechtswidriger Regelungen angestoßen, wodurch verschiedene Rechtsschichten entstehen, welche die rechtliche Regulierung (familiärer) Nahebeziehungen wie ein Kippbild erscheinen lassen: Je nach Perspektive und Betrachtungsgegenstand scheint das traditionelle Familienmodell weiterhin die Oberhand zu behalten oder sich ein fortschrittliches Familienrecht durchzusetzen. Im Beitrag werden Kriterien eines fortschrittlichen Familienrechts diskutiert und daran erinnert, dass es für die Erreichung von materieller Gleichheit nicht ausreicht, formell gleiche Rechte zu statuieren.