Zu den vielen Genres verfassungsrechtlicher Literatur, die sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges etabliert haben, zählt das Schrifttum, das sich mit dem „Menschenbild“ der Verfassung beschäftigt. Bei einer so reichhaltigen Menge an Betrachtungen erscheint es gewiss plausibel, sich zu fragen, welche Art eines solchen Bildes in der österreichischen Bundesverfassung zu finden wäre, die vor 100 Jahren in ihrer Stammfassung angenommen wurde.
Der vorliegende Beitrag sucht zu zeigen, dass Theorien über „Menschenbild-Theorien“ in Verfassungen völlig verfehlt sind und deren Verwendung in der Rechtswissenschaft daher äußerst problematisch ist, wohl aber einen rationalen Problembereich aufweisen, deren Behandlung allerdings auf ganz andere Weise erfolgen müßte.
Tatsächlich sind die Betrachtungen in dem ganz spezifischen Kontext der unmittelbaren Folge des Zusammenbruchs des Naziregimes entstanden und zielten darauf ab, einen moralischen Mehrwert für die neue Verfassung zu schaffen, die nicht nur als Antithese zum untergegangenen System gedacht war, sondern auch dessen Existenz retroaktiv ungeschehen machen sollte. Diese Konzeptionen wurden aus einer logisch inkonsistenten Mischung philosophischer Theorien der Zwischenkriegszeit extrahiert, im Wesentlichen einerseits aus Rickerts neukantianischen Wertidealismus, andererseits aus Max Scheelers antikantianischem Wertrealismus unter Beifügung von Elementen naturalistisch gedeuteter Elemente der philosophischen Anthropologie (Scheeler, Plessner, Gehlen), wobei die Anrufung der Menschenwürde in Art 1 des GG als Einbettung dieser Sichtweisen in die Verfassung gesehen wurde. Diese wurde insofern als einzigartig gesehen, weil eben ihr Menschenbild ganz neuartig sei, was freilich voraussetzt, dass alle anderen Verfassungen ein anderes und weniger neuartiges solches Bild hätten. Eine Menschenbildvergleichung erscheint damit als gerechtfertigtes, ja notwendiges Vorhaben.
Der Punkt ist nun, dass Verfassungen als normative Organisation der Normenproduktion in einem gegebenen System unmöglich Theorien sein können, die einen Gegenstandsbereich zusammenhängend beschreibend, wenn auch mitunter falsch erklären. Sie sind ganz evidenter- und unbestrittenermaßen von politischen und moralischen Theorien inspiriert, aber Einfluss ist selbst keine Theorie, und Theorien bedürfen einer spezifischen Umsetzung in rechtliche Normsätze unter Beachtung der Systemanforderungen rechtlicher Ordnungen. Weder die deutsche, noch die österreichische, noch irgendeine Verfassung hat ein Menschenbild oder drückt ein solches aus.
Dies zugestanden, besteht das interessante, durch diese Betrachtungen aufgeworfene Problem in der Frage, was Verfassungsautoren hinsichtlich des Normverständnisses und der Normanwendung voraussetzten. Der österreichische Fall ist insofern relevant als hier Voraussetzungen regulativ zum Einsatz kommen, die aus der Interpretationstheorie gewonnen werden und in einen prospektiven Minimalismus einmünden.