Michael Potacs ist ein prominenter Vertreter des „sprachpragmatischen Ansatzes“, einer wirksamen Innovation der Methodenlehre. Danach ist bei der Auslegung von Rechtsvorschriften stets auch auf den Kommunikationszusammenhang Bedacht zu nehmen, also darauf, welche Inhalte – über den bloßen Wortsinn hinaus – dem Rechtsetzer „zusinnbar“ sind. Das Argument „Zusinnung“ ist das tragende Element dieser Lehre. Der vorliegende Beitrag setzt sich kritisch mit den theoretischen Grundlagen sowie dem tatsächlichen Gebrauch der „Zusinnung“ in der Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts auseinander. Auf der Grundlage der legistisch orientierten Auslegungsdoktrin der Reinen Rechtslehre wird ein alternatives Modell zur Diskussion gestellt, bei dem die „Zusinnung“ weniger als ein Auslegungsoperator, vielmehr als eine Maxime der praktischen Rechtsanwendung verstanden wird.
- ISSN Online: 1613-7663
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Inhalt der Ausgabe
S. 459 - 478, Aufsatz
Die „Zusinnung“ an den Gesetzgeber: Interpretation oder Rechtsanwendung?The Attribution to the Legislator: Interpretation or Application of Law?
S. 479 - 506, Aufsatz
Ist der Rechtspositivismus mit sich selbst im Reinen?Is Legal Positivism at Peace with Itself?
Der Rechtspositivismus will das positive Recht distanziert „beschreiben“. Er will es beschreiben und es dennoch als etwas Normatives erfassen. Das bedeutet, dass er „beschreiben“ will, was das positive Recht im Einzelfall fordert. Und selbst wenn das nicht immer möglich sein mag, weil das Recht mitunter objektiv unklar ist, ist dies ein wesentliches Anliegen des rechtspositivistischen Ansatzes. Wenn er diese Aufgabe nicht erbringen könnte, wäre es mit der Rechtswissenschaft nichts. Sie würde nichts leisten. Sie wäre nicht praxisrelevant. Um ihre wissenschaftliche Aufgabe aber erfüllen zu können, müssen Rechtspositivisten wissen, was es bedeutet, eine Rechtsnorm richtig anzuwenden. Um die Bedeutung korrekter Normanwendung zu verstehen, müssen sie eine Vorstellung von der Verbindlichkeit solcher Normen entwickeln. Der Rechtspositivismus weigert sich aber, dies zu tun. Es will das Recht distanziert beschreiben. Deswegen ist er mit sich selbst nicht im Reinen.
S. 507 - 524, Aufsatz
Das Ressortsystem in der LandesregierungThe Branch System in State Government
Dass die Landesverfassungen für die Landesregierung das Ressortsystem einführen können, wird seit dem Jahr 1925 in Lehre und Rechtsprechung nicht mehr bestritten. Anhaltender Dissens besteht jedoch in der Beantwortung der Auslegungsfrage, ob dadurch die behördlichen Zuständigkeiten von der Landesregierung auf ihre Mitglieder verschoben werden oder ob die einzelnen Landesräte bloß ermächtigt werden, im Namen der Landesregierung zu entscheiden. Seit 50 Jahren sind die Fronten verhärtet: Die Lehre plädiert geschlossen für eine Delegation der Zuständigkeit und wirft der Judikatur vor, sich mit der Deutung als Mandat in Widersprüche zu verwickeln. Der Beitrag zeigt auf, dass die Rechtsprechung die besseren Argumente auf ihrer Seite hat. Die einschlägigen Rechtsvorschriften tragen einen Zuständigkeitsübergang nicht, der Antwortcharakter des Bundesverfassungsgesetzes über die Ämter der Landesregierungen legt ein Mandat nahe, und die der Rechtsprechung vorgeworfenen Inkonsistenzen lassen sich auflösen, wenn zwischen behördlicher Zuständigkeit und dem Recht auf den gesetzlichen Richter unterschieden wird.
S. 525 - 558, Aufsatz
Die Europäische Säule sozialer RechteThe European Pillars of Social Rights
Die „Europäische Säule sozialer Rechte“ (ESSR) wurde 2017 von den EU-Organen auf dem Sozialgipfel von Göteborg feierlich proklamiert. Sie enthält in drei Kapiteln 20 Rechte und Grundsätze zum Arbeitsmarkt und zu Beschäftigungsbedingungen wie zum Arbeits- und Sozialrecht. Sie bedürfen einer Umsetzung durch weitere Rechtsakte auf politisch unterschiedlichen Ebenen. Insofern handelt es sich in erster Linie um ein gemeinsames sozialpolitisches Programm, dessen Durchführung eine anspruchsvolle Aufgabe für die EU wie deren Mitgliedstaaten darstellt. Ob die ‚Rechte‘ zusätzlich mittelbare rechtliche Wirkung entfalten werden, insbesondere im Rahmen des sogenannten Europäischen Semesters, ist zweifelhaft. Ungeachtet dessen stellt die ESSR einen neuen Anlauf zur Etablierung einer umfassenderen sozialen Dimension der europäischen Integration dar, dessen Erfolgsaussichten abzuwarten sind, wie am Beispiel der Mindestsicherung und des sozialen Schutzes für alle Erwerbstätigen gezeigt wird.
S. 559 - 582, Aufsatz
Das Verwaltungsstrafrecht in der Rechtsprechung des EuGHAdministrative Penal Law in the Jurisdiction of the ECJ
Der vorliegende Beitrag skizziert die jüngst ergangene Rechtsprechung des EuGH zum Verwaltungsstrafrecht, welches dadurch charakterisiert ist, dass das Unionsrecht idR der mitgliedstaatlichen Gesetzgebung die Bestimmung der Sanktionen, die bei Verstößen gegen das Unionsrecht zur Anwendung kommen sollen, überlässt. Dieser Gestaltungsspielraum entspricht der Organisations- und Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten. Dennoch ergeben sich für den nationalen Gesetzgeber Einschränkungen durch das im Unionsrecht verankerte Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip, das Verhältnismäßigkeitsprinzip und die Grundfreiheiten und Grundrechte des Unionsrechts. Es ist zu beobachten, dass der EuGH vor allem die Verhältnismäßigkeit nationaler Sanktionssysteme immer öfter konkret prüft. Aber auch Antworten auf grundlegende Fragen des Verwaltungsstrafrechts, wie das Legalitätsprinzip oder die Reichweite richterlicher Untersuchungspflicht, finden sich in der rezenten Luxemburger Rechtsprechung.
Keine Bestimmung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union darf gemäß Art 54 GRC so ausgelegt werden, als begründe sie das Recht, eine Tätigkeit oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder stärker einzuschränken als dies in der Charta vorgesehen ist. Obwohl die Vorschrift offensichtlich das Verbot des Rechtsmissbrauchs für den Bereich der Grundrechte-Charta konkretisiert, sind ihr Anwendungsbereich und die praktische Bedeutung umstritten. Unstreitig ist die Norm auf den Missbrauch von Grundrechten anwendbar. Hingegen wird ihre Anwendung auf das Verhalten von Grundrechtsverpflichteten kontrovers diskutiert. Immerhin lässt sich begründen, dass auch der Missbrauch von Einschränkungsbefugnissen erfasst wird. Dennoch dürfte Art 54 GRC in beiden Anwendungsvarianten nur eine begrenzte praktische Bedeutung erlangen. Die Gründe liegen einmal im Ausnahmecharakter des Rechtsmissbrauchs, der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten bei grundrechtsrelevanten Sanktionen und dem Umstand, dass es für die Ausübung von hoheitlichen Befugnissen vergleichbare Institute gibt, die einen Missbrauch verhindern. Deshalb hat Art 54 GRC vor allem einen symbolischen Charakter.
S. 603 - 619, Aufsatz
Doppelte Bindung und RichtlinienumsetzungDouble Binding and Policy Implementation
Die Frage, ob die Umsetzung einer Richtlinie durch Verfassungsbestimmung zu erfolgen hat, wenn die Richtlinie zwingend eine Ausführung vorschreibt, die im Widerspruch zu österreichischem Verfassungsrecht steht, wird kontrovers diskutiert. Auch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs argumentiert mit unterschiedlichen Begründungslinien. Diesen geht der vorliegende Beitrag nach und stellt eine, die Rechtsprechungslinien zusammenführende Argumentation zur Diskussion.
S. 621 - 635, Aufsatz
Österreichs Neutralität in der Europäischen UnionAustria’s Neutrality in the European Union
Dieser Beitrag analysiert die Position Österreichs aus der völkerrechtlichen Sicht eines dauernd neutralen Staates in der EU nach dem Stand des Vertrags von Lissabon. Er kommt zu dem Ergebnis, dass der politische Spielraum Österreichs sehr weit reicht. Denn auf der einen Seite ist die Bindungskraft des völkerrechtlichen Neutralitätsrechts aus verschiedenen Gründen äußerst schwach geworden, wenn überhaupt noch vorhanden. Zugleich erlaubt aber auf der anderen Seite das Unionsrecht eine nahezu uneingeschränkte Berufung der österreichischen Regierung auf jene Rechtsposition.
S. 637 - 666, Aufsatz
Öffentliches und privates Recht im Bank- und KapitalmarktbereichPublic and Private Law in Banking and Capital Markets
Das Bank- und Kapitalmarktrecht sind durch ein Nebeneinander von öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Bestimmungen geprägt. Daher ist zu fragen, in welchem Verhältnis zivil- und aufsichtsrechtliche Normen stehen und ob und in welcher Weise das Aufsichtsrecht auf das Zivilrecht ausstrahlt. Eine Analyse der Regelungen zeigt, dass kein einheitliches Muster besteht, sondern dass sich Aufsichts- und Zivilrecht völlig unterschiedlich zueinander fügen. So bestehen Bereiche der völligen Parallelität, aber Unabhängigkeit ebenso wie Nahebereiche. Das Aufsichtsrecht ist bei der Auslegung zivilrechtlicher Normen zu berücksichtigen. Eine weitergehende Ausstrahlung ist aber nur in bestimmten Fällen zu bejahen, etwa wenn das Aufsichtsrecht zivilrechtliche Generalklauseln branchenspezifisch konkretisiert.
S. 667 - 676, Aufsatz
Staatliche Aufgaben, private AkteureState Assignments, Private Actors
Der Beitrag präsentiert Zwischenergebnisse des Forschungsprojekts „Staatliche Aufgaben, private Akteure“ zur Frage, wie sich die vielfältige private Mitwirkung an der staatlichen Verwaltung strukturieren, ordnen und in einem gemeinsamen Rahmen zusammenfügen lässt.
S. 677 - 699, Aufsatz
Gewerbelizenz im freien Spiel der KräfteCommercial Licence in the Free Play of Power
Unter politisch turbulenten Verhältnissen wurde 2017 die Gewerbeordnung novelliert; wie fast jede Novelle versprach auch sie eine spürbare Liberalisierung. Das gilt besonders für die neu geschaffene Gewerbelizenz – ein Prestigeprojekt der Novelle, das sehr umkämpft war und erst im letzten Moment Eingang in die Gewerbeordnung fand. Der vorliegende Beitrag untersucht, wie die Gewerbelizenz funktioniert, was sie Unternehmern wirklich bringt und welche Auslegungsprobleme entstehen, wenn Normen in einer derart bewegten politischen Situation entstehen.
Ob und unter welchen Voraussetzungen das UWG auf juristische Personen des öffentlichen Rechts anwendbar ist, hängt davon ab, ob diese „im geschäftlichen Verkehr“ handeln. Darunter wird nach ständiger Rechtsprechung des OGH jede Tätigkeit verstanden, in der eine Teilnahme am Erwerbsleben zum Ausdruck kommt, im Gegensatz zur rein amtlichen oder rein privaten Tätigkeit. Diese Abgrenzung zwischen Hoheits- und Privatwirtschaftsverwaltung wurde eine Zeit lang nach rein formalen Kriterien, daher nach den rechtstechnisch eingesetzten Mitteln, getroffen. In jüngster Zeit ist der OGH jedoch davon wieder abgewichen und zu seiner früheren Unterscheidung nach der Zielsetzung der Tätigkeit zurückgekehrt. Der vorliegende Beitrag kritisiert diese Rechtsprechung hinsichtlich der subjektiven Erfordernisse im Lichte der unionsrechtlichen Vorgaben der UGP-RL und weist dabei insbesondere auf dadurch entstehende Rechtsschutzlücken sowie die funktionale Auslegung des UWG hin.
S. 713 - 746, Aufsatz
Recent Austrian practice in the field of European Union law
Der siebente Bericht der Abteilung für Europarecht des Völkerrechtsbüros im Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres, der unter inhaltlicher Leitung von Ges. Mag. Tünde Fülöp entstanden ist, befasst sich mit einigen der wichtigsten Entwicklungen des Europarechts während des Jahres 2017. Die behandelten Themen umfassen aktuelle Rechtsfragen zum EU-Energiebinnenmarkt (Schneider/Waibel), zur Rechtsprechung des Gerichtshofs betreffend Westsahara, zu den Post-Cotonou-Verhandlungen (Fuith), zum Abschluss von internationalen nicht rechtsverbindlichen Akten im Bereich der Migration (Prummer) und zum Thema Rechtsstaatlichkeit in der EU (Wimberger).
Wir danken insbesondere dem Leiter des Völkerrechtsbüros, Univ.-Prof. Bot. Dr. Helmut Tichy, dem Leiter der Abteilung für Europarecht, Univ.-Prof. Ges. Mag. Dr. Andreas J. Kumin sowie Attachée Dr. Gisela Kristoferitsch für die sorgfältige Durchsicht und die hilfreichen Anregungen zu diesem Bericht, sowohl inhaltlicher als auch redaktioneller Natur.