Verfassungsrecht ist und bleibt stets lebendig. In der großen Tradition der vorliegenden Reihe soll dies auch in Zukunft dargelegt werden. Den größten Anteil an der Lebendigkeit und Dynamik des Verfassungsrechts hat wie stets Judikatur, und hier vor allem jene des VfGH. Im vorliegenden Bericht sollen die wichtigsten Entscheidungen des VfGH aus den Jahren 2015 und 2016 im Mittelpunkt stehen und in ihrer Bedeutung sowie in ihren Auswirkungen analysiert werden. Gerade diese beiden Jahre zeigten aber auch den enormen Einfluss von Änderungen des geschriebenen Verfassungsrechts auf die Judikatur, weil es galt, damit verbundene offene Fragen zu klären und die neuen Bestimmungen auch mit Leben zu erfüllen.
- ISSN Online: 1613-7639
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Inhalt der Ausgabe
S. 291 - 299, Aufsatz
Probleme der Selbsthilfe am Beispiel des Abschleppens unzulässig abgestellter Kraftfahrzeuge
S. 300 - 321, Rechtsprechung
Zusammenlegung der Gebietskrankenkassen zur Österreichischen Gesundheitskasse
Die Zusammenlegung der Gebietskrankenkassen zur Österreichischen Gesundheitskasse verstößt nicht gegen das Effizienzprinzip: Die Gebietskrankenkassen sind als Sozialversicherungsträger Körperschaften öffentlichen Rechts und Selbstverwaltungskörper iS der Art 120a ff B-VG, die weder eine Garantie für die Existenz von Gebietskrankenkassen noch ein Verbot der Auflösung oder Zusammenlegung von Gebietskrankenkassen enthalten. Es liegt prinzipiell im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, eine ihm als rechtspolitisch zweckmäßig erscheinende Reform vorzunehmen und eine (wenn auch bewährte) Rechtslage durch eine ihm günstiger erscheinende zu ersetzen, ohne hiefür in jedem Fall einen äußeren, spezifischen „sachlichen Anlass“ zu benötigen; dieser Gestaltungsspielraum wurde durch die Zusammenlegung der Gebietskrankenkassen nicht überschritten.
Die paritätische Zusammensetzung der Organe der Sozialversicherungsträger aus Vertretern der Dienstnehmer und der Dienstgeber (§§ 426, 430 und 538v Abs 3 S 4 ASVG idF SV-OG) verstößt nicht gegen demokratische Grundsätze der Selbstverwaltung: Gemäß Art 120c Abs 1 B-VG können Organfunktionen in Selbstverwaltungskörpern (grundsätzlich) nur durch deren Mitglieder ausgeübt werden. Die Sozialversicherung in der Österreichischen Gesundheitskasse ist gesetzlich als Selbstverwaltung des Personenkreises der Dienstgeber und der (aktiven) Dienstnehmer gestaltet (aus § 430 Abs 3 ASVG idF des SV-OG lässt sich ableiten, dass Mitglieder eines Versicherungsträgers iS des ASVG „pflichtversicherte Dienstnehmer/innen“, „Dienstgeber/innen von solchen“ sowie „freiwillig Versicherte“ sind). Angesichts der Beitragsleistung durch Dienstgeber und Dienstnehmer und der besonderen Aufgabenkonstellation der Allgemeinen Sozialversicherung hat der Gesetzgeber den durch Art 120c Abs 1 B-VG bei der konkreten Ausgestaltung der demokratischen Repräsentation in den Organen des Versicherungsträgers eingeräumten erheblichen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum mit der Anordnung der Parität von Dienstgebern und Dienstnehmern nicht überschritten. Es bestehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die abwechselnde Vorsitzführung in den verschiedenen Verwaltungskörpern.
Die Einführung eines Eignungstests für die in die Verwaltungskörper der Sozialversicherung zu entsendenden Personen (§ 420 Abs 6 Z 5, Abs 7 und 8 sowie § 718 Abs 7a ASVG idF SV-OG) verstößt gegen die verfassungsrechtlichen Grundsätze der Selbstverwaltung: Es ist dem Gesetzgeber nicht schlechthin verwehrt, allgemeine (sachliche) Ausschlussgründe für in die Organe der Selbstverwaltung zu entsendende Mitglieder vorzusehen, es darf jedoch keine Anforderung vorgesehen werden, die geeignet wäre, eine Entsendung nach demokratischen Grundsätzen zu konterkarieren. Der Gesetzgeber darf bei der Regelung der Entsendung von Versicherungsvertretern zwar auf fachliche Qualifikationen Bedacht nehmen; mit den angefochtenen Bestimmungen hat er jedoch ein Instrumentarium in Form einer Prüfung mit von außerhalb des Selbstverwaltungskörpers festgelegten (überzogenen) Inhalten durch eine außerhalb des Selbstverwaltungskörpers einzurichtende Prüfungskommission geschaffen und damit (in der Zusammenschau) gegen Art 120c Abs 1 B-VG verstoßen.
Die Ermächtigung zu einer staatlichen Zweckmäßigkeitsaufsicht auch bei Beschlüssen, deren finanzielle Auswirkungen ein Ausmaß von € 10 Mio innerhalb eines oder von fünf Kalenderjahren übersteigen (§ 449 Abs 2 ASVG idF SV-OG) verstößt gegen Art 120b B-VG (Beschränkung der Zweckmäßigkeitsaufsicht auf das Maß des „Erforderlichen“), weil sie im Ergebnis nahezu die gesamte Gebarung der Sozialversicherungsträger abseits von Einzelfallentscheidungen erfasst.
Gegen die Einspruchsmöglichkeit der Vertreter des Bundesministeriums für Finanzen nicht nur bei einer Gefährdung der Interessen des Bundes, sondern auch bei Verstößen gegen die Grundsätze der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit (§ 448 Abs 4 S 2 ASVG idF SV-OG) bestehen aus verfassungsrechtlicher Sicht keine Bedenken.
Die Möglichkeit zur (anlass- und begründungslosen) Vertagung von Tagesordnungspunkten durch die Aufsichtsbehörde (§ 449 Abs 4 vorletzter und letzter Satz ASVG idF SV-OG) stellen dagegen einen sachlich nicht gerechtfertigten Eingriff in die Selbstverwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten durch die Verwaltungskörper der Versicherungsträger dar.
Der durch die Anordnung der Maßgeblichkeit der Grundsätze der Mustergeschäftsordnungen für die Geschäftsordnungen der Sozialversicherungsträger (§ 456a Abs 2 S 2 ASVG idF SV-OG) bewirkte Eingriff in die Satzungsautonomie der Versicherungsträger ist verfassungswidrig.
Gegen die (nach „Tunlichkeit“ erfolgende) Übertragung von Aufgaben an das Büro (§ 432 Abs 1 ASVG idF SV-OG) bestehen im Hinblick auf die umfassende Weisungsberechtigung des demokratisch legitimierten Verwaltungsrates, der übertragene Geschäfte auch jederzeit wieder an sich ziehen kann, keine verfassungsrechtlichen Bedenken.
Die Auflassung der Kontrollversammlung verstößt nicht gegen verfassungsrechtliche Grundsätze der Selbstverwaltung; die Art 120a ff B-VG sehen keinen Mindeststandard an Organen von sonstigen Selbstverwaltungskörpern vor.
Die „Zielsteuerung Sozialversicherung“ (§ 441f ASVG idF SV-OG) verstößt nicht gegen das Determinierungsgebot: Es besteht kein Zweifel, dass damit im Rahmen der Hoheitsverwaltung zu fassende Beschlüsse des Dachverbandes vorgesehen werden; auch Urheber und mitwirkende Stellen sowie das einzuhaltende Verfahren und die Inhaltskategorien des Zielsteuerungssystems sind geregelt; jedoch Verfassungswidrigkeit der in § § 441f Abs 1 S 2 vorgesehenen Weisungsbindung und der in § 444 Abs 5 Z 3 ASVG idF SV-OG vorgesehenen Weisungsbefugnis.
Sachlichkeit der Einrichtung des Dachverbandes: Angesichts dessen, dass der Dachverband der Sozialversicherungsträger der Selbstverwaltungskörper der Sozialversicherungsträger (nicht der Versicherten) ist, begegnet es keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass § 441a ASVG idF SV-OG keine Rücksicht darauf nimmt, dass die Versicherungsträger unterschiedliche Versichertenzahlen repräsentieren und kleine Versicherungsträger daher dasselbe Gewicht wie große haben.
Die in § 441a Abs 2 ASVG idF SV-OG vorgesehenen Anforderungen an die Beschlussfassung sind im Hinblick auf das Sachlichkeitsgebot und die Art 120a ff B-VG unbedenklich, da es im Wesen „demokratischer Grundsätze“ liegt, dass die Repräsentanten einzelner Pflichtmitglieder eines Selbstverwaltungskörpers in dessen Organen überstimmt werden können.
Es bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die in § 30a Abs 2 S 1 ASVG idF SV-OG vorgesehene Ermächtigung an den Dachverband, näher bezeichnete Vorbereitungsaufgaben an einzelne seiner Mitglieder zu übertragen, weil die entscheidende Willensbildung dem demokratisch legitimierten Organ verbleibt und der Dachverband die Übertragung auch wieder rückgängig machen kann.
Die Befugnis des zuständigen Bundesministers zu Verfügungen, die ausschließlich die Arbeitsorganisation der Sozialversicherungsträger betreffen (§ 30a Abs 2 S 2, § 30b Abs 3 und § 30c Abs 3 ASVG idF SV-OG), verstößt gegen demokratische Grundsätze der Selbstverwaltung.
Die Bestimmung über die Entsendung von Personen in den Überleitungsausschuss (§ 538v Abs 1 S 2 ASVG idF SV-OG) soll Doppelmitgliedschaften (insbesondere solche im Vorstand einer Gebietskrankenkasse und im Überleitungsausschuss) vermeiden und dient damit der Vermeidung von Interessenkollisionen; sie ist dem Regelungsziel adäquat und verstößt daher nicht gegen das Sachlichkeitsgebot des Gleichheitssatzes.
Gegen die Bestimmung über die Bestellung des kommissarischen Leiters durch die Bundesministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz (§ 538v Abs 4 ASVG idF SV-OG) bestehen angesichts des Übergangscharakters dieser Regelung keine verfassungsrechtlichen Bedenken.
Der Zuständigkeitsübergang an die Bundesministerin für den Fall, dass ein gültiger Beschluss nicht zustande kommt (§ 538 Abs 1 S 4 und 5 ASVG idF SV-OG) sowie die Bestimmung des § 538v Abs 3 S 4 ASVG idF SV-OG, wonach Dienstnehmer vom Vorsitz im Überleitungsausschuss ausgeschlossen sind, sind unsachlich und daher verfassungswidrig.
Die Übertragung der Sozialversicherungsprüfung auf die Abgabenbehörden des Bundes ohne eine Möglichkeit der Einflussnahme auf die Modalitäten dieser Prüfung durch die Gesundheitskasse (§ 41a Abs 1 ASVG idF SV-OG und Bestimmungen im PLABG) verletzt die Organisationsprinzipien der Selbstverwaltung.
Die Übertragung von Abteilungen und Zuweisung von Bediensteten des ehemaligen Hauptverbandes an die Gesundheitskasse (§ 718 Abs 12 und 18 ASVG idF SV-OG) verstößt nicht gegen das Determinierungsgebot, den Gleichheitssatz und das Eigentumsrecht.
S. 321 - 323, Rechtsprechung
Bewertung aufschiebend bedingter oder unsicherer Rechte im Pflichtteilsrecht
Aufschiebend bedingte oder unsichere Rechte sind in Bezug auf die Bemessungsgrundlage des Pflichtteilsanspruchs nicht unberücksichtigt zu lassen, sondern mit einem Schätzwert anzusetzen.
Der Regress des Werkunternehmers, der dem Bauherrn im Zuge der Werkausführung einen Schaden verursacht und auch ersetzt hat, gegen die örtliche Bauaufsicht, der ihrerseits eine schadenskausale Sorgfaltswidrigkeit bei der Überwachung der Ausführungsarbeiten anzulasten ist und die daher gemeinsam mit dem Werkunternehmer eine Solidarhaftung gegenüber dem Bauherrn trifft, nach § 1302 iVm § 896 ABGB ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Dennoch kann die Ausprägung der Zurechnungsgründe im Einzelfall dazu führen, dass die Haftung der örtlichen Bauaufsicht im Innenverhältnis gänzlich entfällt.
S. 327 - 331, Rechtsprechung
Nachvertragliche Verkehrssicherungspflichten betreffend Kundenparkplatz des Einkaufszentrums
Schutz- und Sorgfaltspflichten aufgrund eines nachvertraglichen Schuldverhältnisses müssen durch einen inneren Zusammenhang mit dem Vertragsverhältnis gerechtfertigt sein. Bei der Prüfung, wann ein nachvertraglicher Kontakt in einen deliktischen Zufallskontakt übergeht, kommt es auf die zeitliche, örtliche und funktionale Nähe der schädigenden Handlung zu dem Vertragsverhältnis, ausgelegt nach der Übung des redlichen Verkehrs, an.
Ansprüche aus der Verletzung nachvertraglicher Schutzpflichten gehen nicht deshalb unter, weil der Geschädigte deckungsgleiche Ansprüche aus vorvertraglicher Schutzpflichtverletzung gegen einen Dritten hat.
Das rechtliche Interesse iS des § 219 Abs 2 ZPO (iVm § 22 AußStrG) an der Kenntnis des titulierten Erbengläubigers, ob der Schuldner eine Erbantrittserklärung abgegeben, die Erbschaft ausgeschlagen oder auf sein Erbe verzichtet hat, kann auch darin liegen, Auskunft über das Nichtvorliegen von Aktenstücken mit solchen Erklärungen des Erbanwärters zu erhalten.
Das Erbrecht ist als Ganzes unpfändbar; erst der sich im Zuge der Verlassenschaftsabhandlung ergebende Anspruch des Erben kann gemäß § 331 EO pfändbar sein. Pflichtteilsforderungen sind hingegen Geldforderungen und nur als solche pfändbar.
Ist strittig, ob eine Person die andere überlebt hat, so machen die Sterbeurkunden nach § 292 Abs 1 ZPO vollen Beweis für die darin bezeugten Todeszeitpunkte. Die Kommorientenvermutung des § 11 TEG ist daher nur dann anwendbar, wenn bewiesen wird, dass zumindest einer der in den Sterbeurkunden genannten Todeszeitpunkte unrichtig ist.
S. 334 - 337, Rechtsprechung
Anerkennung einer Verstoßung der damit von Anfang an einverstandenen Ehefrau durch den Ehemann
Die einseitige Verstoßung der Ehefrau durch den Ehemann nach islamischem Recht (talaq) widerspricht dem inländischen ordre public, wenn sie ohne das Einverständnis der Frau erfolgte. Das Anerkennungshindernis des § 97 Abs 1 Z 1 AußStrG liegt nicht vor, wenn die Ehefrau von Anfang an mit der einseitigen Verstoßungsentscheidung einverstanden war. Allerdings kann nicht schlechthin jede (vermögensrechtliche oder sonstige) Disposition, die die verstoßene Ehefrau im Hinblick auf die (im Entscheidungsstaat jedenfalls gültige) Entscheidung über die Ehescheidung trifft, als eine die Ordre-public-Widrigkeit beseitigende Zustimmung gewertet werden.
Nach § 97 AußStrG können Anerkennungsentscheidungen nicht ihrerseits anerkannt werden.
Das Prüfungsverfahren iS der §§ 102 ff IO schließt nicht aus, dass der Insolvenzverwalter unter besonderen Umständen ein rechtliches Interesse (§ 228 ZPO) an der Feststellung haben kann, dass eine angemeldete Forderung keine Insolvenzforderung ist.
Im Fall einer vollstreckbaren Forderung trifft die Klägerrolle nach § 110 Abs 2 IO auch dann den Bestreitenden, wenn er den Charakter der angemeldeten Forderung als Insolvenzforderung bestreitet.
Eine mit Rückstandsausweis titulierte Abgaben- oder Sozialversicherungsforderung ist auch dann vollstreckbar iS von § 110 Abs 2 IO, wenn der Rückstandsausweis erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens, aber noch vor Ende der Prüfungstagsatzung erlassen wurde.
Die Forderung des Bundes gegen den insolventen Arbeitgeber auf Zahlung von vor Insolvenzeröffnung nicht abgeführter Lohnsteuer ist eine mit Erlassung des Haftungsbescheid nach § 224 Abs 1 BAO aufschiebend bedingte Insolvenzforderung.
S. 341 - 343, Rechtsprechung
Nationalsozialistische Propagandawirkung von (einzelnen) Äußerungen
Neben Einzelhandlungen, die schon für sich als typische Betätigung iS des Nationalsozialismus zu erkennen sind, können auch Handlungskomplexe den Tatbestand verwirklichen, selbst wenn die einzelnen Teilakte des betreffenden Gesamtverhaltens – isoliert betrachtet – nicht als typisch nationalsozialistisch zu beurteilen wären.
Die Strafverfügung ist iS des mit dem Mandatsverfahren verfolgten Ziels der Verfahrensbeschleunigung und Ressourcenschonung ohne vorausgehende Hauptverhandlung zu erlassen. Zulässig sind ausschließlich vorbereitende Tätigkeiten des Gerichts zum Zweck der Klärung der Voraussetzungen für die Erlassung einer Strafverfügung. Nach Durchführung einer – wenn auch nicht abgeschlossenen – Hauptverhandlung ist die Erlassung einer Strafverfügung nicht zulässig, sondern das Hauptverfahren nach den allgemein geltenden Vorschriften zu führen und mit Urteil (gegebenenfalls mit Beschluss) zu beenden.
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